Fingermanns Rache
Abwasserschächte konnten die Wassermassen kaum noch fassen, als sich Arndts Gestalt aus der grauen Wand schälte. Er trug einen breitkrempigen Hut, der die gleiche Farbe wie sein Mantel hatte. Kurz vor der Markise blieb er stehen und musterte die Unterstehenden. Der Regen rann in Sturzbächen von der Hutkrempe über seine Schultern.
»Es ist an der Zeit, Jeanne d’Arc«, sagte er und begann mit rauer Stimme einen englischen Text zu zitieren:
»As I did walk by Hampstead Fair
I came upon Mother Goose
so I turned her loose – she was screaming.«
Die Zeilen wiederholte er, und Jeanne d’Arc untermalte das Gesagte mit dezenten Tönen. Arndt zwängte sich zwischen die anderen und setzte sich auf den Verstärker. Die vereinzelten Töne vereinten sich zu einer Melodie, und das Gesprochene wurde gesungen; eine Ballade, angesiedelt zwischen Folk und Blues, entstand. Angenehm überrascht, versuchte Marion das Gesungene zu übersetzen, ohne aber daraus schlau zu werden:
»Saw Johnny Scarecrow make his rounds
in his jet-black ’mac, which he won’t give back
stole it from a snowman.«
Arndt, noch immer singend, kramte aus seinem Rucksack eine Sammelbüchse, die stark an die von »Brot für die Welt« erinnerte, und stellte sie vor sich ab, was wenig Sinn machte. Es regnete noch immer, zahlendes Publikum war nicht in Sicht.
Wie würde Bakker wohl reagieren, wenn er mich so sähe?, dachte Marion. Sie, mit dieser abgerissenen Truppe unter einer Markise und vor sich eine Sammelbüchse. Nichts Gutes mit Sicherheit. Marion lächelte. Die Musik nahm sie mit und ließ sie ihre Augen schließen, ihre Gedanken reisten ans Meer. Aller Ballast fiel von ihr ab. Es brauchte nicht viel, um glücklich zu sein.
»Immer muss ich recht haben«, sagte Arndt und holte Marion in die Wirklichkeit zurück. Sie blinzelte. Ihre Augen hatten Probleme, sich an das diffuse Licht zu gewöhnen, am grauschwarzen Himmel glaubte sie eine Möwe zu sehen, die in einer Wolke verschwand.
»Wegen des Regens?«, fragte sie.
Arndt nickte.
»Sie haben viele verborgene Talente: Meteorologe, Musiker, Verschwörungstheoretiker, Schriftsteller. Was kommt als Nächstes? Ein weißes Kaninchen, hervorgezaubert aus Ihrem Hut?«
»Sie müssen nur genau hinsehen. Ich bin Johnny, die Vogelscheuche, und drehe meine Runden«, antwortete Arndt, indem er eine Zeile des Liedes übersetzte.
Marion ergänzte: »In dem pechschwarzen Regenmantel, den er nicht zurückgeben will.«
»Genau«, sagte Arndt und fügte verschwörerisch an: »Den habe ich dem Schneemann gestohlen.«
Max Dreiklang warf ein: »Das kapiere ich nicht. Klingt aber irgendwie schön.«
»Wer alles versteht, stirbt vor Langeweile«, entgegnete Arndt.
»Weil ihn nichts mehr überraschen kann?«, fragte Marion.
»So ist es.« Arndt lächelte hintergründig.
Marion musterte diesen seltsamen Mann, der ihr so viele Rätsel aufgab. »Haben Sie eigentlich eine Lizenz dafür?«, fragte sie dann und zeigte auf die Sammelbüchse.
»Ich habe sogar die Lizenz zum Atmen, Frau Kommissarin«, entgegnete Arndt.
»Das klingt aber nicht sehr vertrauenswürdig. Wenn jetzt ein Kollege vorbeikommt, wie stehe ich dann da?«
»Sie könnten fliehen. Ich würde Ihnen den Rücken freihalten. Selbst mit einer Hundertschaft würde ich es aufnehmen, meine Möglichkeiten sind unbegrenzt.«
»Sie müssen immer übertreiben.«
»Die Übertreibung ist ein Kind der Wahrheit.« Arndt hielt inne. »Das war ein guter Satz, finden Sie nicht?«
Marion schüttelte nur den Kopf, während Arndt sich an seinem Rucksack zu schaffen machte. Er zog ein rotes Regencape heraus und reichte es Marion.
»Hier, für den Nachhauseweg. Es wird bis in die Nacht hinein regnen.«
Überrascht bedankte sich Marion. Das Cape war zwar aus billigem Stoff, aber es war nagelneu.
»Habe ich heute für Sie gekauft«, sagte Arndt stolz. »Ich wusste, dass Sie eins brauchen würden.«
Marion trat einen Schritt zurück, Arndts Geschenk in der Hand. Was geschah hier nur? Woher diese plötzliche Vertrautheit? Wie konnte sie nur so eine Nähe zu Arndt zulassen? Sie musste doch Distanz wahren.
Mit der Ausrede, sich die Hände waschen zu müssen, verschaffte sie sich erst einmal diese Distanz. Sie suchte eine ruhige Ecke im Café auf und forderte dann per Handy eine Ablösung an.
Der Beamte in Zivil erschien spät, es begann bereits zu dämmern. Jeanne d’Arc war schon gegangen. Max Dreiklang verzehrte sein Abendbrot, und Wilbur Arndt saß auf seinem
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