Fingermanns Rache
Hatte er es auf sie abgesehen? Eine verspätete Rache? War er eines ihrer Opfer, einer der Jungen, der der Allmacht zweier pubertierender Mädchen ausgeliefert gewesen war? Gehörte er zu denjenigen, die man nicht mehr aufgefunden hatte, als es darum ging, die Schatten ihrer Vergangenheit zu tilgen? Oder war er gar einer dieser Brüder, die die Gunst ihres Vaters verloren hatten, weil sie zu weit gegangen war?
Worauf Loki auch immer hinauswollte, eines war sicher: Sein erstes Ziel lag darin, sie nervös zu machen. Die abgetrennten Finger der Puppe und das Einsetzen von Wilbur Arndt als Ghostwriter waren mehr als deutliche Hinweise. Laut Tesics Bericht war Arndt ein ehemaliger Heiminsasse, der selbst ein Opfer der Stanzen geworden war. Deshalb musste er mit der Sache zu tun haben, auch wenn er ihr gegenüber bei der Befragung keine Andeutungen gemacht hatte. Sie selbst konnte sich nicht an Arndt erinnern. Weder Name noch Gesicht waren ihr geläufig, was aber nach mehr als vierzig Jahren nicht verwunderte. Wie dem auch sei. Arndt war gefährlich. Notfalls musste man ihn davon überzeugen, dass es besser war, Vergangenes ruhen zu lassen.
Hilde Rensch starrte auf ihr Adressbuch. Vielleicht sollte sie ihre ehemalige Freundin und Schicksalsgenossin kontaktieren. Vielleicht erinnerte sie sich an Arndt. Zwar waren sie seit damals getrennte Wege gegangen, aber die Vergangenheit hatte sie für immer zusammengeschweißt. Wie sie wohl reagieren würde, die biedere Frau des Hauptkommissars Bernhard Schorten, unverhofft konfrontiert mit ihrer schrecklich schönen Kindheit?
Unwillkürlich musste Hilde Rensch lächeln. Cora, das hübsche, blonde Mädchen mit den Zöpfen, das bei allen beliebt war. Ein Teufel in Engelsgestalt. An Grausamkeit hatte Cora sie fast noch übertroffen, obwohl sie niemals die Initiative übernahm. Erst wenn Hilde die Jungs so weit gehabt hatte, hatte sie eingegriffen, aber dann hatte sie mit ihren Einfällen überrascht.
Rensch atmete tief ein, ihre Handflächen waren feucht. Noch immer, selbst nach all den Jahren, erregten sie die Spiele, die Unterwürfigkeit und die Macht, diese grenzenlose Macht. Rensch ging zum Waschbecken und kühlte ihre heiße Stirn. Beherrschung war der Lohn des Erwachsenseins. Sie gönnte sich nur noch kontrollierte Eskapaden, für ihre Phantasien bezahlte sie nun.
»Wer hätte dich auch genommen?«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild und setzte sich dann wieder an ihren Schreibtisch.
*
Auf dem Weg in ihr Büro wurde Marion von Jeff Broghammer, dem EDV -Spezialisten, angerufen.
»Hallo Marion«, meldete er sich. »Auf dem Stick ist ein Video. Ich habe es gerade gesehen. Ist ziemlich unangenehm, und der Typ, der es gedreht hat, muss einen ganz miesen Humor haben.«
»Sieht man Bakker?«
»Man sieht alles. Am besten, du schaust es dir an.«
»Wir sind schon unterwegs.«
*
Das Kompetenzzentrum Kriminaltechnik ( LKA KT ) befand sich im Bezirk Tempelhof-Schöneberg. Damit es seine Unabhängigkeit bewahren konnte, war es von den anderen LKA -Dienststellen räumlich getrennt. In sechs Dezernaten, von der Tatorterkennung bis zur forensischen Informationstechnik, wurde hier mit modernster Technik die Aufklärung von Verbrechen unterstützt.
Broghammer führte Marion und Mendel in einen kleinen, fensterlosen Raum. Zwei Computer summten, eine Schreibtischlampe erhellte nur einen Teil des Zimmers, das mit elektronischen Geräten zugestellt war.
»Wir haben nur zwei Stühle«, sagte Broghammer und setzte sich auf den einen. Marion bot Mendel den anderen an. Sie wollte hinter den beiden stehen.
Broghammer öffnete ein Programm und sagte: »Die Datei war nicht geschützt, jedes Kind hätte das Video zum Laufen gebracht. Bisher habe nur ich den Film gesehen, und wie ich schon sagte, das ist ziemlich skurril und nichts für schwache Nerven.«
»Jetzt fang schon an«, drängte Marion.
Broghammer nickte, und schwarz-weiße Zahlen flimmerten über den Bildschirm. Sie zählten rückwärts von fünf bis eins, dann erschien ein Tänzer aus der Ära der Stummfilmzeit. Er trug Stock und Hut. Ein maskenhaftes Grinsen entstellte sein Gesicht. Der Mann befand sich auf einer kahlen Bühne und tanzte Charleston. Er tanzte von der linken zur rechten Seite. Am rechten Rand angekommen, nahm er seinen Hut ab und verbeugte sich. In dieser Stellung verharrte er. Nun wurde auf der linken Hälfte des Bildschirms ein zittriger Text eingeblendet:
Atemlos-Produktionen präsentiert:
Tod eines
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