Fingermanns Rache
aber der Psychologe meinte, er sollte vorerst an einer ruhigeren Stelle Dienst tun.«
Illsen kannte Marion Tesic vom Sehen. Jeder auf dem Revier kannte sie. Die Frau zog alle Blicke auf sich. Bisher war er froh gewesen, dass er ihr aus dem Weg gehen konnte, denn wenn er eine Schwäche hatte, dann waren es attraktive Frauen. Ziemlich lange war er mit Patricia zur Eheberatung gegangen, bis er begriffen hatte, was er mit seinen Eskapaden riskierte. Er liebte seine Frau, und er liebte seine Kinder. Er hatte ein glückliches Leben.
Dies war keinen Seitensprung wert. Dennoch überkam ihn von Zeit zu Zeit diese Unruhe, die ihn früher um die Häuser getrieben hatte, die ihn auf der Suche nach Möglichkeiten viele Nächte gekostet hatte. Daher ging er diesen Möglichkeiten gezielt aus dem Weg, nur so bekam er diese Sucht – ja, es war eine Sucht – in den Griff.
Illsen klopfte an und Tesic öffnete.
»Ich wollte gerade noch schnell zum Bäcker«, sagte sie. »Wir haben nicht so früh mit Ihnen gerechnet.«
Marion Tesic streckte ihm die Hand entgegen, mit der anderen hielt sie ihre rote Wildlederjacke zu, als ob sie fröre.
»Meine Frau hat mir Kuchen eingepackt. Wenn Sie wollen?« Illsen nahm ihre Hand und lächelte etwas verkrampft. Von Nahem sah sie noch viel besser aus, als er befürchtet hatte. Am liebsten wäre er gleich wieder gegangen.
»Gerne«, antwortete sie und drehte sich um. »Kai, wir sind gerettet«, sagte sie dann zu einem blassen Mann, der an einem der beiden Schreibtische saß.
Illsen schritt auf ihn zu und gab ihm ebenfalls die Hand. »Sie sind sicherlich Kai Mendel«, sagte er.
Mendel stand auf und entschuldigte sich für die Unordnung auf seinem Schreibtisch, was Illsen mit einem Schulterzucken beantwortete.
Marion fragte: »Sollen wir in Ihr Büro gehen?«
»Nein, ich denke, wir können uns erst mal hier besprechen. Wenn Sie einen Stuhl für mich hätten.«
Sie setzten sich. Kaffee und Kuchen wurden verteilt und ein paar müde Scherze über die aufreibende Polizeiarbeit gemacht. Dann wurde Illsen offiziell.
»Vorneweg«, begann er. »Die Situation ist für uns alle nicht leicht. Durch den bedauerlichen Tod von Karl Bakker und die gesundheitlichen Probleme von Bernhard Schorten ist Ihre Abteilung auseinandergerissen worden. Eine bewährte Zusammenarbeit hat ihr Ende gefunden, und das zu einem Zeitpunkt, wo ein immenser Druck auf dem Team lastet. Schorten hat bisher die Abteilung vorbildlich geführt, und ich bin, ehrlich gesagt, nicht scharf darauf, gerade jetzt seine Position einzunehmen.« Illsen trank einen Schluck Kaffee und wandte sich Marion zu. »Mir ist durchaus bewusst, dass Sie, Frau Tesic, genauso gut die Führung hätten übernehmen können. Dies ist aber aus verschiedenen Gründen nicht so gekommen, und deshalb müssen wir uns alle mit der jetzigen Situation arrangieren.«
Marion zeigte ihre Zustimmung, Illsen rückte seine Tasse zurecht.
»Was ich von mir sagen kann, sind zwei Dinge. Erstens: Ich bin ein Teamspieler und nehme gerne Ratschläge an. Zweitens: Ich bin der festen Überzeugung, dass ein Team einen Leiter braucht. Und der bin nun mal ich. Wenn wir miteinander auskommen wollen, müssen Sie beide das akzeptieren.«
Mendel nickte eilfertig, und Marion schenkte Illsen ein Lächeln, das ihn kurz den Faden verlieren ließ.
»Gut«, sagte er gedehnt und nippte an seinem Kaffee. Dann fuhr er fort: »Vergangene Nacht habe ich mich weitestgehend in die Materie eingearbeitet. Um aber einen tatsächlichen Überblick zu haben, brauche ich Ihre Unterstützung. Deshalb hätte ich gerne einen Lagebericht zum derzeitigen Stand der Dinge. Wenn Sie so gut wären, Frau Tesic.«
Marion richtete sich etwas umständlich auf. Was sie jetzt zu sagen hatte, würde die entspannte Atmosphäre empfindlich stören.
»Also. Gestern Abend hat sich der Entführer, der sich selbst Loki nennt, wieder gemeldet. Wie gehabt, hat er uns eine E-Mail mit Stichworten zur Entführung geschickt. Sie kennen ja sein Vorgehen. Nur diesmal haben wir – habe ich«, korrigierte sich Marion, »die E-Mail, entgegen Lokis Anweisung, nicht an Wilbur Arndt weitergeleitet.«
»Sondern?«
»Ich habe die nächste Folge des Romans selbst geschrieben und an die Zeitung gesandt. Die Ausgabe dürften wir in Kürze erhalten.«
Illsen zog scharf die Luft ein und fragte: »Warum?«
Als Marion ihre Beweggründe schilderte, konnte sie eine anfängliche Nervosität nicht unterdrücken. Erst allmählich und nach
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