Fingermanns Rache
Schritt voraus.«
»Vermutlich haben Sie recht. Deshalb sollten wir aber nicht resignieren. Vielleicht ist es für uns sogar ein Vorteil, wenn es für ihn so gut läuft. Er wird überheblich und macht Fehler. Seinem ausgeklügelten Plan begegnen wir mit ehrlicher Polizeiarbeit.«
*
Marion saß alleine in ihrem Büro. Sie fühlte sich schlecht. Vor ein paar Minuten hatte Mendel sie unterrichtet – der Finger stammte definitiv von Fabian Flaig. Wenn sie ihre Augen schloss, sah sie den blutigen Stummel an Flaigs Hand. Das Einzige, was sie tun konnte, war, sich abzulenken.
Vor ihr stapelten sich die Mappen mit den Dossiers. Zögernd nahm sie ihres zur Hand und öffnete es. Die erste Seite beinhaltete ihren Lebenslauf. Eine aktuelle Aufnahme, die sie in einem Café sitzend zeigte, war an die obere rechte Ecke geheftet. Daneben stand ihre Privatadresse inklusive Handynummer. Darunter ihr kompletter Werdegang: Eltern, Schulbildung, abgebrochenes Medizinstudium und Polizeidienst. Wie bei einer Bewerbung, dachte sie. Nichts fehlte – woher hatte Arndt all die Informationen? Die nächste Seite galt ihrem sozialen Umfeld und ihrem Privatleben: dem erweiterten Familienkreis, Freunden, flüchtigen Bekanntschaften für eine Nacht. Intime Details wurden offengelegt, selbst sexuelle Vorlieben wurden erwähnt. Wut und Entsetzen schnürten Marion fast die Kehle zu. Wie lange wurde sie schon beobachtet? Wie war es möglich, so tief in ihre Privatsphäre einzudringen? Am liebsten hätte sie das Dossier zerrissen, dennoch las sie weiter. Es folgte ihre Charakterisierung. Mit wachsendem Befremden sah Marion ihr Leben auf ein paar Seiten Papier reduziert.
Intelligent, sympathisch, ehrgeizig, unbestechlich, reagiert oft zu emotional, nutzt ihre Reize, risikobereit und daher schwer zu berechnen, teamfähig, naiv in ihrer Außenwirkung (sie rechnet nicht mit dem Neid anderer), häufig wechselnde Partner, zu keiner festen Beziehung fähig.
Zitternd ließ sie das Papier sinken. Das Ganze war ein Alptraum. In vielerlei Hinsicht erkannte sie sich wieder. Ihre Stärken, ihre Schwächen. Es war, als würde ihr jemand einen Spiegel vorhalten.
Zu keiner festen Beziehung fähig.
Diese Beurteilung traf sie am meisten, weil es ein Vorwurf war, den sie sich selbst machte. Mit keinem Mann hatte sie es länger als ein Jahr ausgehalten. Kleine Fehler, die sie anfangs übersehen hatte, konnte sie später nicht tolerieren. War ein Mann kantig, gab es bald mehr Streit als warme Worte, war er perfekt, wurde er bald langweilig.
Mein Privatleben ist total verkorkst, dachte sie und las weiter.
Zentrale Figur, Sympathieträger trotz Schwächen, belebendes Element, das für Überraschungen und Spannung sorgt, sollte nicht geopfert werden, bedeutende Rolle bis zum Schluss ist erwünscht.
Fassungslos schloss sie die Akte. Wurde hier über Leben und Tod entschieden? Lebte sie, weil sie sympathisch war? Musste Bakker sterben, weil er abstoßend war? Wie krank musste Wilbur Arndt sein, um so zu handeln? Was trieb ihn an?
Marion massierte sich die Schläfen. Eines war klar, wenn sie ihre Würde bewahren wollte, durfte kein anderer diese Akte zu Gesicht bekommen.
Ihr Blick fiel auf die weiteren Dossiers. Alle ordentlich abgeheftet in blauen Mappen. Katalogisierte Schicksale. Eine eigenartige Faszination ging von dem Stapel aus. Welche Macht konnte man damit ausüben? Unbescholtene Bürger wurden erpressbar, jeder hatte etwas zu verbergen.
Marion zog die Akte Hilde Rensch heraus. Dieses Dossier könnte ihre Karriere ebnen. Schon löste sie den ersten Gummizug, da überkamen sie Skrupel. Es war nicht richtig. Sie wollte sich nicht von Wilbur Arndt verführen lassen. Marion nahm das Telefon und rief Illsen an.
*
Gerade eben hatte Peter Illsen mit seiner Frau Patricia gesprochen. Sie brauchte den Kindersitz für den Kleinen, den er wieder mal nicht aus dem Wagen genommen hatte. Sie klang vorwurfsvoll. Sie würde gleich vorbeikommen, und ja, sie könne sich etwas Schöneres vorstellen, als am Sonntagnachmittag quer durch ganz Berlin zu fahren.
Illsen war auf dem Weg zu Tesics Büro, die ihn unbedingt sprechen wollte. Sie hatte einen verstörten Eindruck auf ihn gemacht. Das alles schien sie zu überfordern, vielleicht sollte er sie doch nach Hause schicken.
Zwei Stufen auf einmal nehmend, hetzte er ins obere Stockwerk. Der Chef vom LKA 1 kam ihm entgegen, er war bereits über die neue Lage informiert.
»Herr Illsen, wir müssen uns nachher unbedingt wegen
Weitere Kostenlose Bücher