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Fingermanns Rache

Fingermanns Rache

Titel: Fingermanns Rache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christof Weiglein
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die Erinnerung an ihr letztes Gespräch ließ ihn diesen Gedanken sofort verwerfen. Dann eben ein Freund. Magnus Westermark, der Grafologe, der hatte ihm schon oft geholfen. Wenn es Probleme gab, kam er immer sofort vorbei. Schon hatte Schorten das Telefon in der Hand, jedoch wählte er nicht. Wo sollte er Magnus empfangen? Wie sollte er ihm sein Problem schildern? Er konnte ihm unmöglich eingestehen, dass er unfähig war, seinen Haushalt zu ordnen, sein Leben zu organisieren. Bisher waren sie sich auf Augenhöhe begegnet, das konnte er nicht aufs Spiel setzen. Magnus würde jeden Respekt vor ihm verlieren.
    »Du drehst dich im Kreis«, sagte Schorten zu sich selbst. »Keine saubere Wohnung ohne Haushälterin, keine Haushälterin ohne saubere Wohnung und ohne Haushälterin keine saubere Wäsche und damit nicht genügend Zeit, Cordula zu finden.« Schorten seufzte und betrachtete sich im Spiegel. Ein heruntergekommener, alter Mann starrte ihn an und sagte ihm, dass er Hilfe brauchte. Vergiss deinen Stolz und vertrau dich jemandem an, drängte sein Spiegelbild.
    Schorten wandte sich ab und bezwang diesen Moment der Schwäche. Seine Gedanken kehrten zu dem Problem zurück, das es zu lösen galt. Hierzu musste er das Problem eingrenzen. Die wesentliche Frage war doch, wie er die Zeit überbrücken konnte, bis er Cordula gefunden hatte. Die rettende Antwort offenbarte sich, als er den Namen eines Wäscheherstellers auf einem seiner letzten Unterhemden las. Sie war so naheliegend, dass er über seine eigene Unzulänglichkeit nur den Kopf schütteln konnte. Es gab doch Geschäfte, in denen er sich das Nötige einfach kaufen konnte. Er würde sich mit Unterwäsche eindecken, bis er Cordula gefunden hatte. Schorten setzte sich dafür ein Limit von zwei Wochen, so lange würde er zu Hause auch allein zurechtkommen.
    Diese Entscheidung ließ neue Kräfte frei werden. Schorten duschte und rasierte sich. Ein frisches weißes Hemd, die graue Hose und das passende Sakko gaben ihm Halt und Würde. Und als er das Haus verließ, war er schon fast wieder der Alte. Selbstbewusst hob er seinen Kopf und schlug den Kragen seines Mantels hoch. Dann fuhr er nach Alt-Treptow. Vielleicht hatte er in Cordulas Zweitwohnung etwas übersehen.
    Leise schloss Schorten die Wohnungstür hinter sich. Ein krankgeschriebener Polizist, der unerlaubt eine fremde Wohnung betrat – stand darauf ein Disziplinarverfahren oder mehr?
    Seit seinem letzten Besuch hatte sich nichts verändert. Die Jacke hing noch immer an der Garderobe im Gang, die Zeitschriften lagen an der gleichen Stelle. Schorten ging ins Wohnzimmer, auch hier das gleiche Bild. Anscheinend hatte außer ihm in den letzten Tagen niemand die Wohnung betreten.
    Sein Blick glitt über die Einrichtung, die Bücherregale und das Klavier und blieb an dem exklusiven Plattenspieler hängen. Ein außergewöhnliches Modell, nicht in die Zeit passend und doch auf dem neuesten Stand der Technik. Seltsam, dass es ihm erst jetzt auffiel, wo er doch ein Faible für diese Geräte hatte. Auf dem Plattenteller lag eine LP , daneben das Albumcover. Schorten nahm das Cover in die Hand. Er kannte die Platte. Es war »Aqualung« von Jethro Tull. Aufgenommen in den frühen Siebzigern, ein Meilenstein der Rockgeschichte.
    Erinnerungen an seine Jugend wurden wach. Sein Vater hatte Rock-und Jazzmusik gehasst und gerade deshalb die Leidenschaft seines Sohnes dafür geweckt. Heimlich und mit eigenem hart verdienten Geld hatte Schorten sich eine umfangreiche Plattensammlung angelegt und diese, wenn sein Vater auf Dienstreise war, auf dessen Heiligtum, einem exklusiven Dual-Plattenspieler, in voller Lautstärke abgespielt. Wohl sein einziges Aufbegehren gegen den alten Herrn.
    Schorten lächelte und fuhr mit dem Finger über die raue Oberfläche des Covers, das wie ein Ölgemälde aufgemacht war. Die vordere Seite zeigte, in schmutzigen Brauntönen gehalten, den Obdachlosen Aqualung, der dem Album seinen Namen gegeben hatte. Der Mann stand leicht gebückt vor einer Mauer und griff in die Innentasche seines langen Mantels. Seine Miene hatte etwas Verschlagenes, ja fast Bösartiges. Unvermittelt lief Schorten ein Schauer über den Rücken. Es war dieses Bild, es war genau dieses Bild, an das ihn Wilbur Arndt immer erinnert hatte. Der gleiche Gesichtsausdruck, die gleiche Gestalt und sogar die gleiche Kleidung. Was hatte das zu bedeuten? Schorten atmete flach, sein Herz raste. Er verstand nicht, warum ihm diese Erkenntnis

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