Fingermanns Rache
dermaßen zusetzte. Warum sich ein beklemmendes, ja fast existenziell bedrohendes Gefühl in seiner Brust breitmachte. Seine Hand zitterte leicht, als er die Platte auflegte und den Tonarm senkte.
Auf das warme Knistern der Leerrille folgten die ersten aggressiven Takte des Titelliedes. Mit geschlossenen Augen lauschte Schorten der Musik und versuchte seine Gedanken in geordnete Bahnen zu lenken. Wilbur Arndt glich also in verblüffender Weise Aqualung. Ob dies Zufall oder gewollt war, konnte man klären, ansonsten war nichts weiter geschehen, versuchte er sich zu beruhigen. Doch der Versuch misslang, Schorten wurde das beklemmende Gefühl nicht los.
Nun begann Ian Anderson zu singen, und Schorten konzentrierte sich auf den Text, der von diesem armseligen Obdachlosen handelt, der auf einer Parkbank sitzt und kleinen Mädchen anzügliche Blicke zuwirft, während ihm der Rotz aus der Nase läuft. Auch nach so vielen Jahren hatte das Lied nichts von seiner Faszination verloren, dennoch vermittelte es ihm keine neuen Erkenntnisse.
Was hast du auch erwartet, dachte er, eine vertonte Lösung deiner Probleme, eine geheime Botschaft? Schorten rang mit sich. Sein Verstand schalt ihn einen Narren, sein Instinkt sagte ihm, dass dies alles kein Zufall sein konnte.
Sollte er jetzt also die Tesic anrufen? Sollte er ihr von seinem beeindruckenden Ermittlungserfolg berichten? Sollte er ihr sagen, dass Wilbur Arndt der Figur auf dem Cover einer alten Langspielplatte glich und er genau dieses Album in der Zweitwohnung seiner verschwundenen Frau gefunden hatte? Sollte er ihr den offensichtlichen Zusammenhang zwischen dem Fall Flaig und seiner persönlichen Tragödie darlegen? Schorten verzog verächtlich sein Gesicht. Bleib sachlich, bleib um Himmels willen sachlich. Das Ganze war lächerlich.
Verärgert legte er das Cover beiseite, die Musik ließ er laufen.
Die ganze Wohnung hatte er durchsucht – ohne Ergebnis. Jetzt stand er abermals vor dem Schlafzimmer. Wenn er es diesmal richtig machen wollte, musste er da reingehen.
»Sentimentalitäten kannst du dir ein andermal leisten«, zischte er und öffnete die Tür. Die Luft in dem Zimmer war abgestanden, ansonsten konnte er nichts Auffälliges feststellen. Ein Doppelbett, zwei metallene Nachttischschränkchen und ein Sideboard. Über dem Sideboard hing ein nichtssagender Kunstdruck. Die Betten waren frisch bezogen, und in den Schubladen der Schränkchen befand sich das Übliche: Lektüre für die Nacht, Taschentücher, Unterwäsche.
Schorten stellte sich in den Türrahmen und ließ seinen Blick schweifen. Irgendetwas irritierte ihn. Mit diesem Zimmer stimmte etwas nicht. In Gedanken ging er die anderen Räume durch, bald hatte er den Grundriss der Wohnung vor Augen, und ihm wurde klar, dass dieses Zimmer um mindestens ein Drittel größer sein müsste. Hier war ein Raum verborgen! Irgendwo musste sich eine Tür befinden. Sein Blick wanderte die Wände entlang. Die einzige Möglichkeit war hinter dem Sideboard. Schorten schob den halbhohen Schrank beiseite und tatsächlich, dahinter war eine niedrige Tür, die ihm bis zur Hüfte reichte. Durch einen flachen Drehknopf ließ sie sich öffnen.
Ein seltsamer Duft, an schweres Parfüm und Leder erinnernd, quoll ihm entgegen. Schorten bückte sich und spähte durch die Öffnung. Ein dunkles Loch, ohne Taschenlampe konnte er nichts erkennen. Zaghaft sagte er: »Hallo, ist da jemand?«, doch kein Geräusch war zu vernehmen. Vor der Öffnung kniend, tastete er nach einem Lichtschalter auf der Gegenseite. Seine Finger glitten über eine glatte Wand und fanden das Gesuchte. Blaues kaltes Licht flammte auf. Schorten kniff die Augen zusammen, und als er sich an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatte, flüsterte er entgeistert: »Bitte lass das nicht wahr sein.«
Der versteckte Raum war eine moderne Folterkammer, ein Sadomaso-Studio. Schwarze Wände waren durch einen knapp über dem Boden liegenden blauen Streifen geteilt, der das Licht der Deckenbeleuchtung reflektierte, das einen Käfig in der Mitte des Raumes anstrahlte. Vor dem Käfig standen ein Ledersessel und ein Glastisch, auf dem diverse Gegenstände lagen. Gegenstände, die Schorten aus einem zurückliegenden Fall kannte, Gegenstände, deren Zweck ihn bis heute in Alpträumen verfolgte.
Schorten betrat den Raum. Folterinstrumente und Dildos in verschiedenen Größen und Ausführungen waren fein säuberlich aufgereiht. Manches war wie medizinisches Gerät verchromt und spiegelte
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