Fingermanns Rache
blieb die Sache spannend. Dafür hatte der gute Wilbur gesorgt.
Nach dem Rügendamm verteilte sich der Verkehr. Marion kam recht zügig voran. Alleen zogen sich endlos dahin, ein ständiger Wechsel von Licht und Schatten. Plakate kündigten die Störtebeker-Festspiele an, Bauern bestellten ihre Felder, und im Westen lockte das Blau des Boddens.
In Schaprode parkte Marion ihren Wagen und betrat die Fähre nach Hiddensee. Die Sonne stand hoch, vereinzelte Wolken zogen Richtung Rügen, ein paar Touristen machten lachend Fotos. Das Gesicht im Wind, atmete Marion die salzige Luft. Wie sehr sie sich auf das Meer freute.
Auf verwinkeltem Weg fuhr die Fähre durch den Bodden, und nach einer halben Stunde legte sie in Neuendorf an. Eine Pferdekutsche wartete auf die ankommenden Gäste, und eine Familie zog mit Bollerwagen und Hund in Richtung Dorfmitte. Irgendwo hatte Marion gelesen, dass es gerade mal zwölf motorisierte Fahrzeuge auf der Insel gab, ansonsten galt Hiddensee als autofrei.
Der Kutscher kannte Josh Petersen. »Führt direkt an meiner Route vorbei«, sagte er. »Wenn Bertha bei Laune bleibt, dauert’s kaum ’ne Stunde.« Auf sein Zeichen legte Bertha los.
Das kleine reetgedeckte Haus stand etwas abseits am Ortseingang von Vitte. Ein Schild »Josh Petersen, Fremdenzimmer, Fahrradverleih und Bootstouren« wies auf Besitzer und Geschäft hin. Die Tür hatte keine Klingel. Ein weiteres Schild bat darum, nicht anzuklopfen. Wenn die Tür verschlossen war, sollte man einfach ums Haus gehen.
Ein schmaler Weg führte durch einen Nutzgarten und auf eine überdachte Veranda zu. Seitenwände schützten vor dem Wind, der Durchgang stand offen. Marion hörte jemanden eine Melodie pfeifen und warf einen Blick auf die Veranda. Ihre Hand lag auf dem verwitterten Holz, das noch feucht war vom Regen der letzten Tage.
Gerade als sie sich bemerkbar machen wollte, entdeckte sie den alten Armeemantel, der an einem Haken hing. Eine Person saß mit dem Rücken zu ihr in einem ausgeblichenen Ohrensessel und reparierte ein Fangnetz. Neben der Person lag auf einem Hocker eine Querflöte.
Wilbur Arndt, schoss es ihr durch den Kopf. Während ihre Hand nach ihrer Waffe tastete, suchte ihr Verstand nach einer Erklärung.
Der Ohrensessel knarrte, und ein nicht besonders großer Mann stand auf. Braune wettergegerbte Haut, ein grauer Haarkranz und freundliche blaue Augen. »Was ist mit Ihnen«, fragte der Mann, »haben Sie ein Gespenst gesehen?«
Marion murmelte eine Entschuldigung. War sie jetzt schon paranoid?
»Sie sind sicher die Dame von der Polizei.« Der Mann streckte ihr die Hand entgegen. »Josh Petersen.«
»Marion Tesic, LKA Berlin.« Die Hand des Mannes war warm und trocken. Marion lächelte unbeholfen und zeigte ihren Ausweis.
»Vielleicht war Bertha zu schnell, das bekommt nicht jedem«, sagte er, ohne den Ausweis zu beachten.
»Ja, sie hatte einen verdammt guten Tag«, entgegnete Marion. Sie hatte ihr Gleichgewicht wiedergefunden.
»Haben Sie etwas Zeit mitgebracht?«, fragte Petersen. »Ich muss leider gleich los. Eine Bootstour mit sechs Leuten. Das kann ich mir nicht entgehen lassen.«
»Eigentlich habe ich mich auf den Termin eingestellt. Aber wenn es sein muss.« Marion machte aus ihrer Enttäuschung keinen Hehl.
»Die Pause wird Ihnen guttun, glauben Sie mir. Das Wetter ist heute hervorragend. Der beste Tag des Jahres. Gehen Sie an den Strand und entspannen Sie sich.«
»Na, ich weiß nicht. Außerdem wollte ich mit der letzten Fähre zurück.«
»Da hätte die Zeit sowieso nicht gereicht. Ich habe viel zu erzählen. Sie sollten sich ein Zimmer nehmen.«
»So was nennt man wohl höhere Gewalt«, sagte Marion lächelnd. Ein weiterer Tag am Meer kam ihr nicht ungelegen.
»Oder Fügung. Wie es der Zufall so will, ist noch eines meiner drei Gästezimmer im Strandhaus frei. Wenn Sie wollen?«
»Kann es sein, dass Sie sehr geschäftstüchtig sind?«
»Wenn ich eins nicht bin, dann ist es geschäftstüchtig. Meine Schwägerin schmeißt den Laden. Ohne sie würde ich wohl in einer Tonne schlafen.«
»Kann ich mir das Zimmer ansehen?«
»Gemach, gemach. Hier ticken die Uhren anders. Ich mache meine Bootstour, und Sie gehen an den Strand.«
»Aber ich habe gar nichts dabei.«
»Ein Handtuch bekommen Sie von mir, den Rest müssen Sie selbst entscheiden.«
»Ist es denn nicht zu kalt zum Schwimmen?«
»Für Sie nicht. Sie sind doch ein Kind des Meeres, habe ich recht?«
*
Der Strand zog sich kilometerlang
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