Fingermanns Rache
die Schaukel zu setzen und lauthals das Lied von Pippi Langstrumpf zu singen. Das kennen Sie doch, oder?«
»Ja«, sagte Marion lächelnd, während Josh die ersten Takte anstimmte.
»Zwei mal drei macht vier, widdewiddewitt, und drei macht neune …«
Jetzt musste Marion richtig lachen. Beinahe hätte sie mitgesungen.
»Ja, ja, das Leben«, sagte Josh und hielt sein Weinglas gegen die untergehende Sonne. »Bald wird es kühl, ich glaube, wir sollten reingehen, wenn wir mit dem Essen fertig sind. Drinnen erzähle ich Ihnen vom Kinderheim, drinnen wartet die Vergangenheit.«
*
Die Wohnstube war ein einfacher, aber nicht ungemütlicher Raum. Am Fenster zur Veranda hin stand ein Tisch, gegenüber ein großes Bücherregal, in der Ecke ein Kachelofen, daneben ein mächtiger Holzschrank. An der anderen Wand ein uralter Plattenspieler samt unzähligen Vinylplatten und ein Wandtelefon mit Wählscheibe. Kein Fernseher, dafür ein Röhrenradio von SABA , Marke Freudenstadt.
»Setzten Sie sich bitte«, sagte Josh und ging zum Schrank. Dort stellte er sich auf einen Schemel und zog einen sichtlich schweren Koffer herunter, den er auf den Tisch hievte.
Während er die beiden Lederriemen, die den Koffer zuhielten, öffnete, bemerkte er: »Liegt da oben schon seit einer Ewigkeit, deshalb der Staub.«
Im Koffer lagen unzählige Gegenstände: ein Feldstecher, ein Jagdmesser, ein Feuerwehrauto aus Blech, Pfeifen in unterschiedlichen Größen, eine geschnitzte Holzpuppe und weitere Schätze. Obenauf eine Kiste mit Fotos. Das erste Bild, eine Schwarz-Weiß-Aufnahme, zeigte eine junge Frau, die ihre Augen verdrehte und dabei verschmitzt lächelte.
»Erika mochte das Bild nie so richtig. Dabei war sie genau so. Sie war wunderbar.« Josh hielt das Foto lange in der Hand, sein Geist blickte in die Vergangenheit. »Gestorben ist sie, als die Kleinste zwei Jahre alt war.« Weitere Sekunden verstrichen. Josh konnte sich nicht von dem Bild lösen, seine Stirn legte sich in Falten.
»Beinahe hätte ich ihr Gesicht vergessen.« Seine Stimme drohte zu kippen. Verschämt wandte er sich ab und legte die Aufnahme beiseite. Einen Augenblick lang rang er um Fassung, dann richtete er sich auf. »In diesem Koffer befindet sich ein ganzes Menschenleben, verrückt, nicht wahr?«
Marion zuckte hilflos mit den Schultern, Josh griff nach der Feuerwehr, stellte sie dann aber entschlossen zurück.
»Kommen wir endlich zum Grund Ihres Besuchs.« Konzentriert durchforstete er die Fotokiste. Ab und zu schüttelte er den Kopf oder gab einen Kommentar ab, den Marion nicht verstand.
»Das ist es«, sagte er endlich und streckte Marion eine unscharfe Aufnahme entgegen.
»Und?«, fragte Marion. Sie sah zwei Mädchen mit der typischen Kinderfrisur der sechziger Jahre – lange Haare, zu Zöpfen gebunden. Die eine sehr schlank, die andere etwas stämmig. Beide wohl mitten in der Pubertät.
»Das sind die Wärterinnen.«
»Die was?«
»Die Wärterinnen. So haben wir sie genannt, und die Bezeichnung ist äußerst zutreffend. Sie wollen wissen, was damals im Heim geschehen ist. Die beiden Mädchen sind der Schlüssel dazu. Die Stämmige war die Tochter des Heimleiters. Ihr Name: Hilde Kronthal. Die andere, ihre Freundin, Cora Bürk.«
Marion notierte die Namen.
»Die Brücke galt als ein besonders strenges Heim. Hart, aber ungerecht, sagten wir immer. So wie der Leiter, Dr. Erwin Kronthal – der eiserne Erwin. Wir litten zwar unter seiner Willkür, dennoch war das Leben einigermaßen erträglich. Erst als seine Tochter Hilde – die Gerüchte behaupteten, sie sei vom Internat geflogen – auf Dauer bei ihm wohnte, brach für uns Jungs die Hölle aus. Sie, und im Schlepptau ihre Freundin Cora, ließ keine Möglichkeit aus, uns zu demütigen. Ich weiß nicht, ob Sie sich vorstellen können, was es für uns bedeutet hat, von den Mädchen, die kaum älter als wir waren, herumkommandiert zu werden? Sklaven nannten sie uns. Ihre Launen ließen sie an uns aus. Natürlich regte sich Widerstand, dennoch traute sich niemand, den beiden die Stirn zu bieten – der allmächtige Dr. Kronthal schützte sie, er vertraute ihnen blind. Sie waren die Lichtgestalten, wir der Abschaum. So konnten die Wärterinnen tun, was sie wollten. Sie spielten uns gegeneinander aus, sie machten uns lächerlich, und sie nahmen uns das Einzige, das wir hatten – die Selbstachtung. Hier kommen nun die Athlon-Zwillinge, Konrad und Konstantin, ins Spiel.«
Marion zog die Fotografie der
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