Fingermanns Rache
Vorgehensweise, Frau Tesic. Der Fall ist noch lange nicht abgeschlossen. Die Fahndung nach Arndts Hintermännern läuft. Im Kraftwerk gibt es etliche Spuren, die auf mindestens zwei weitere Entführer hinweisen. Speziell diesen Loki haben wir im Visier. Mittels des gefundenen Verzerrers können wir vielleicht seine wahre Stimme herausfiltern. Auch gilt es, Arndts verbliebene Unterlagen zu sichten. Die meisten sind leider verbrannt.«
»Es gab ein Feuer?«
»Ja, beim Durchsuchen der Kellerräume ist ein Feuer ausgebrochen. Vermutlich eine Schutzmaßnahme der Entführer. Dann gibt es noch Bewegung im Mordfall Bakker. Wir sind auf einige Verdächtige aus der SM -Szene gestoßen. Die Verhöre stehen heute an. Die Soko wird noch eine Weile beschäftigt sein.« Illsen machte eine kurze Pause. »Und wie sieht es bei Ihnen aus?«
Marion berichtete in Kurzform von ihren Ermittlungen.
»Was? Die erste Befragung in Tromptow war wertlos? Sie sind einer Schauspielerin aufgesessen? Haben Sie denn gar keinen Verdacht geschöpft?«
»Ich kann es selbst noch nicht glauben. Das alles war so perfekt arrangiert. Ein weiteres Argument, das für die Überprüfung von Arndts Identität spricht. Er ist, oder besser war, ein Meister der Illusion. Auf uns warten noch einige Überraschungen.«
»Das befürchte ich allmählich auch«, seufzte Illsen. »Und dieser Josh Petersen lebt auf Hiddensee?«
»Ja.«
»Dann fahren Sie dahin. Ich will Arndts Geschichte, seine Beweggründe kennen. Ich will, dass keine Fragezeichen mehr bleiben. Sie haben in allem freie Hand.«
»Ich kann jeder Spur nachgehen?«
»Ja, selbst wenn sie durch die ganze Republik führt.«
Nach dem Gespräch lud Marion sofort das Video auf ihr Handy. Sie schaute es sich mehrmals an. Sie sah, wie Arndt seinen Auftritt inszenierte, wie er an seine Rede am Spreeufer anknüpfte. Sie sah die Angst in den Zügen Flaigs, und sie sah, wie Arndt den finalen Schuss provozierte. Ja, da war sie sich sicher. Arndt hatte es darauf angelegt. Aber warum nur? Zum Glück war die Qualität der Aufnahme mäßig, man konnte das Projektil, das seinen Kopf traf, nur erahnen. Die Wunde war nicht zu sehen, nur die ruckartige Bewegung und das Erlöschen seiner Augen gab Aufschluss über den Treffer.
Marion suchte die Stelle, die Arndt anfangs in Großaufnahme gezeigt hatte und betrachtete das Standbild. War das wirklich Wilbur Arndt? Der gleiche verächtliche Zug um die Mundwinkel, die gleichen undurchsichtigen Augen, die jedem Blick auswichen, die gleichen tiefen Furchen, die sein Gesicht durchzogen. Nichts sprach dagegen, nur ein Doppelgänger oder sein Zwillingsbruder hätte seine Rolle übernehmen können. Aber einen Doppelgänger zu finden, der Wilbur Arndt dermaßen ähnelte, war ausgesprochen unwahrscheinlich, eigentlich unmöglich. Und sein Zwillingsbruder? Der war erwiesenermaßen tot. Oder etwa doch nicht? Was hatte sie an Beweisen? Die Aussage von Miriam Eisen – einer nicht gerade vertrauenswürdigen Person –, aber auch die Aussagen von ehemaligen Heimbewohnern, die eigentlich keinen Grund hatten zu lügen. Des Weiteren eine Akte, die irgendwo in der alten DDR -Bürokratie verschwunden war, und eine Sterbeurkunde. Was wog schwerer? Ihr Bauchgefühl oder Urkunde und Aussagen? Vielleicht konnte ihr dieser Petersen ja weiterhelfen. Vielleicht sollte sie sich aber einfach mit der Frage beschäftigen, an der ihre ganze Spekulation zu scheitern drohte: Warum sollte sich ein anderer für Arndts Pläne opfern?
*
Einige Stunden später stand sie vor Stralsund im Stau. Der Rügendamm war bereits in Sicht, als Marion von Illsen eine SMS erhielt: » DNA -Analyse bestätigt Arndts Identität. Er hat sich einfach überschätzt. Bin jetzt wieder sicher, dass wir zu einem guten Abschluss kommen. Genießen Sie die Sonne.«
Marion seufzte. Den Doppelgänger konnte sie nun endgültig ausschließen. Bei gleicher DNA kam nur ein eineiiger Zwilling in Frage. Ein Zwilling, der offensichtlich vor vierzig Jahren verstorben war. Vergiss es, sagte sie zu sich selbst. Wilbur Arndt ist tot, und du hast es zu akzeptieren.
Der Verkehr rollte wieder an, Marion straffte sich. Nun galt es, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Arndt hatte seinen Tod billigend in Kauf genommen, das war offensichtlich. Aber welchem Zweck diente sein Tod, warum sollte er sich öffentlich erschießen lassen? Was war so groß, dass es sich lohnte, dafür zu sterben? Fragen, die sie im Moment nicht beantworten konnte. Auf jeden Fall
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