Fingermanns Rache
beiden Brüder hervor.
»Ja, genau, das sind sie«, bestätigte Josh. Er nahm das Bild und zeigte auf einen der Jungs. »Der mit dem ernsten Gesicht, das ist Konstantin. Er ist der um ein paar Minuten Jüngere.« Marion ersetzte in Gedanken Konstantin durch Wilbur. Mit dem anderen Namen konnte sie sich nicht anfreunden.
»Der andere ist Konrad. Er war ein typischer Anführer. Er hatte Ideen, er war gut im Sport, und er hatte keine Angst. Fast keine. Die speziellen Erziehungsmethoden von Dr. Kronthal hatten auch ihn eingeschüchtert. Damit meine ich aber nicht den Rohrstock oder das Einsperren im Turm, nein, das hat Konrad ganz gut verkraftet. Was ihn wirklich zu unbedingtem Gehorsam zwang, war die Angst vor dem Fingermann. Jeder wusste von dem Reim, und jeder hatte von den Unbelehrbaren gehört, die er in der Nacht holte und richtete. Für jede Sünde ein Finger, das war Gesetz. Unser Respekt war grenzenlos. So groß, dass selbst Konrad den Wärterinnen nicht ins Gehege kam. Der Fingermann machte uns alle gefügig.«
»Der Fingermann war also eine Erfindung Kronthals, mit deren Hilfe er ein Klima der Angst erzeugte. Wenn alle Strafen versagten, dann sorgte dieser böse Geist für Ordnung. Deshalb die Macht der Mädchen. Stellte man sich gegen sie, so stellte man sich gegen Kronthal und somit gegen den Fingermann. Kann man das so sehen?«
»Genau so.« Josh nickte müde.
»So viel zu den Erziehungsmethoden des Pioniers der modernen Pädagogik.« Marion klangen noch immer die Worte Miriam Eisens in den Ohren. »Das Ganze ist einfach erbärmlich.«
»Es kommt noch viel schlimmer.« Ein freudloses Lächeln huschte über Joshs Gesicht. »Anfangs behelligten die Wärterinnen Konrad nicht direkt. Vielleicht hatten sie vor seinem Jähzorn Respekt, der ihn manchmal unkontrolliert übermannte und manch einem die Nase brach. Vielleicht empfanden sie es aber als besondere Genugtuung, seinen Bruder Konstantin, der eines ihrer bevorzugten Opfer war, zu demütigen, um Konrad seine Ohnmacht zu zeigen. Wie dem auch sei, die Spannung zwischen Konrad und den Wärterinnen wuchs, ein Konflikt war unvermeidbar. Konrad gründete einen Geheimbund, den er, in Anlehnung an die französische Résistance, einfach Widerstand nannte. Nur wenige durften Mitglied werden, ich gehörte leider nicht dazu, ich war noch zu klein. Ziel des Widerstands war es, die Mädchen loszuwerden, egal wie. Alles Mögliche wurde in Erwägung gezogen, selbst ein tödlicher Unfall galt als Option. Die einzelnen Mitglieder gaben sich Kampfnamen. Konrad nannte sich Loki, und sein Bruder Konstantin hieß Wilbur Arndt.«
»Das ist die Verbindung«, entfuhr es Marion.
»Welche Verbindung?«
»Hören Sie denn keine Nachrichten?«
»Nein.« Josh verschränkte die Arme. »Mich interessiert nicht, was die Menschen dort draußen sich antun. Deshalb lebe ich auf einer Insel. Keine Zeitung, kein Fernseher und ein Radio, das keine neuen Nachrichten sendet. Ab und zu krieg ich was mit: Inseltratsch, Touristengeschwätz. Das reicht mir, um zu wissen, dass es nicht besser wird.«
»Hören Sie, Josh. Ich ermittle in einem Entführungsfall, in den Wilbur verwickelt ist. Heute Morgen haben sich die Ereignisse zugespitzt. Es kam auf allen Sendern. Interessiert Sie das nicht?«
»Nein. Verschonen Sie mich mit Neuigkeiten. Meine Erlebnisse reichen mir, mehr ertrage ich nicht.«
»Aber Sie können doch nicht nur in der Vergangenheit leben.«
»Ich lebe nicht in der Vergangenheit. Ich lebe im Hier und Jetzt. Ich lebe viel intensiver, als Sie es sich wohl jemals vorstellen können. Und wissen Sie, warum?«
Marion hob zaghaft die Schultern.
»Ganz einfach, weil ich mich auf das Wesentliche konzentriere, weil ich das Schlechte aussperre. Wenn sich die Geister der Vergangenheit mit denen der Gegenwart vereinen, gehe ich auf mein Schiff und fahre hinaus. Denn nur da draußen, ganz allein auf sich gestellt, weiß man, dass man lebt.«
»Haben Sie schon einmal daran gedacht, fremde Hilfe in Anspruch zu nehmen?«, fragte Marion vorsichtig.
»Einen Seelenklempner?« Unwirsch winkte Josh ab. »Lassen Sie mich damit in Ruhe. Die verlangen nur viel Geld und sagen: ja-ja, nein-nein und vielleicht. Alles Quacksalber. Am Schluss stehst du alleine da mit deinem Berg voller Erinnerungen, mit dem ganzen Seelenmüll, der dich zu ersticken droht.« Joshs Stimme zitterte.
»Wollen Sie eine Pause, sollen wir morgen weiterreden?«
»Nein, nein. Es ist schon gut. Ich freue mich, dass Sie hier
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