Fingermanns Rache
an der Zeit, sich den unbestrittenen Anführer der Jungs vorzuknöpfen.
An einem drückend heißen Tag im Juli, einem dieser Tage, wenn deine Kleidung am Körper klebt, die Hitze den Verstand ausdörrt und wilde Phantasien ihre erregenden Blüten treiben, suchten sie Loki, Wilbur und mich im Bunker auf, der außerhalb des Heimgeländes lag. An mir hatten sie kein Interesse, sie schickten mich heim. Alles, was ich von nun an weiß, habe ich von Wilbur.
Es war sehr eng im Bunker. Hände und Arme streiften sich. Die Mädchen, beide ein Jahr älter als die Brüder, mit dem Körper einer Frau. Die Jungs unerfahren und neugierig. Es kam zu flüchtigen Berührungen, verstohlenen Blicken. Die Mädchen, seltsam freundlich, schlugen ein Spiel vor: jeder ein Kleidungsstück, immer abwechselnd, wer sich ziert, hat verloren. Die Jungs waren bald nackt, die Mädchen ließen ihre Blusen fallen. Wilbur schämte sich, Loki war reifer, er konnte seine Erregung kaum verbergen. Doch die Wärterinnen hatten anderes im Sinn, sie wollten befehlen, sie wollten herrschen, sie wollten Unterwerfung. Die eine machte sich über Loki lustig, sie lachte über seine Erektion. Loki griff nach seiner Hose. Ohne Vorwarnung schlug sie ihm ins Gesicht, seine Lippen platzten auf. Die andere drohte Loki mit ihrem Vater, mit dem Fingermann, wenn er sich wehren würde. Von der Situation überfordert, gehorchte Loki. Die Wärterinnen zwangen ihn und Wilbur, sich vor ihnen in den Dreck zu legen. Sie weideten sich an dem Anblick, an ihrer Macht, und dann verlangten sie das Abscheulichste, was man von zwei Brüdern verlangen kann.«
»Was meinen Sie damit?«, unterbrach Marion.
»Das Gleiche habe ich Wilbur auch gefragt – von ihm stammte diese Formulierung. Er meinte, ich solle mir einfach vorstellen, was für mich das Schlimmste wäre, dann käme ich der Sache sehr nahe.«
Marion nickte verständnisvoll, während Josh fortfuhr.
»Damit hatten sie den Bogen überspannt. Der Fingermann hatte keine Macht mehr über Loki. Das Stahlrohr lag zufällig auf dem Boden. Die Wärterinnen hatten keine Chance. Die eine brach röchelnd zusammen, die andere krümmte sich und hielt schützend die Hände vors Gesicht. Loki kannte keine Gnade, er drehte vollkommen durch. Wenn Wilbur nicht eingeschritten wäre, hätte er sie vermutlich getötet. Wer danach Hilfe holte, ist mir nicht bekannt. Auf jeden Fall wurden die Mädchen schwer verletzt auf die Krankenstation des Heims gebracht. Der verantwortliche Arzt, ein Freund von Dr. Kronthal, versorgte die beiden, ohne den Vorfall an übergeordnete Stellen zu melden. Den Eltern von Cora Bürk versicherte er glaubhaft, dass es sich um einen Fahrradunfall gehandelt habe. Nichts, was den Ruf des Heims schädigen könnte, durfte nach außen dringen.
Loki und Wilbur wurden im Turm eingesperrt. Dr. Kronthal untersuchte die Vorfälle. Natürlich wusste er von den Spannungen zwischen den Mädchen und den Heimkindern, doch was ihm alles zu Ohren kam, konnte oder wollte er nicht glauben. Deshalb beließ er es bei der Bestrafung von Loki und Wilbur. Die Wärterinnen blieben unbehelligt, die Ereignisse wurden vertuscht. Kronthal ging wohl davon aus, dass alles zur alten Ordnung finden würde. Aber hier hatte er sich gründlich geirrt. Das ganze Heim befand sich in Aufruhr, Gerüchte über die Vorgänge im Bunker kursierten, die Kinder gehorchten nicht mehr. Loki und Wilbur waren, trotz heftigster Züchtigungen, nicht zu beruhigen. Selbst als er ihnen zusicherte, sie ohne offizielles Strafverfahren davonkommen zu lassen, zeigten sie sich uneinsichtig. Er musste reagieren, wenn er die Kontrolle nicht verlieren wollte. Er musste ein Exempel statuieren.«
»Der Fingermann.«
»Ja. Es war am 25. Juli 1966, als Loki und Wilbur nach dem Abendessen plötzlich im Speisesaal auftauchten. Ich weiß das deshalb so genau, weil sich dort mein Leben änderte – im Guten wie im Schlechten. Die beiden wurden wie Helden empfangen. Loki schwang große Reden. Er sprach von Gerechtigkeit, er kündigte an, dass die Wärterinnen das Heim verlassen müssten, er nahm Worte wie Freiheit und Revolution in den Mund. Keiner verstand richtig, was er damit meinte, er vermutlich auch nicht, aber wir waren euphorisch, wir sangen Lieder und marschierten demonstrativ mit zwei Stunden Verspätung in den großen Schlafsaal ein. Um zweiundzwanzig Uhr ging das Licht aus. Wir alle turnten noch auf den Betten herum, keiner wunderte sich, warum die Nachtaufsicht uns nicht in
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