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Fingermanns Rache

Fingermanns Rache

Titel: Fingermanns Rache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christof Weiglein
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sind, dass ich Ihnen meine Geschichte anvertrauen kann. Ich habe immer gedacht, ich könnte alles vergessen. Anfangs ist mir das sogar gut gelungen. Mit zunehmendem Alter aber steigt der Druck der Erinnerungen. Und jetzt ist er nicht mehr auszuhalten. Deshalb ist Ihr Erscheinen eine rettende Fügung. Sie sind der Engel, der meine Dämonen vertreibt.«
    »Ich weiß nicht, Josh. Ich bin doch nur eine Polizistin. Sie erhoffen sich da zu viel.«
    »Nein, Sie sind mehr als eine Polizistin, Sie können alles sein, wenn Sie nur wollen.«
    Josh stand unvermittelt auf und ging zum Schrank. Marion blickte ihm skeptisch nach. Mit einer neuen Flasche Wein kehrte er zurück. Ohne zu fragen, schenkte er ein.
    »Damals, als das Unglück in Form der Wärterinnen über uns hereinbrach, war ich elf Jahre alt. Ein kleiner Junge mit blonden Locken, der bei allen beliebt war. Selbst die Wärterinnen mochten mich. Deshalb nahmen sie mich unter ihre Fittiche, sie machten mich zu ihrem Hofnarren. Natürlich wehrte ich mich dagegen, ich wollte das nicht, doch Loki redete mir gut zu. Er meinte, ich sei eine Art Doppelagent, der direkt an der Quelle saß, der verfängliche Dinge über die Mädchen erfahren könnte. Wenn ich gut wäre, würde er mich in den Widerstand aufnehmen. Also fügte ich mich. Letztendlich hatte ich sowieso keine Wahl. Von diesem Tag an war es meine Aufgabe, die Wärterinnen zu unterhalten: Ich musste auf einem Bein stehen, wenn sie es verlangten, über den Hof kriechen, wenn es geregnet hatte, oder, als sie einen besonders miesen Tag hatten, eine Maus fangen und ihr den Kopf abbeißen.«
    »Nein.« Marion verzog angeekelt das Gesicht.
    »Leider doch. Ich habe tatsächlich einem lebenden Tier den Kopf abgebissen. Das Knacken, das Zucken, das warme Blut. Noch heute wird mir schlecht, wenn ich eine Maus sehe. Die Wärterinnen jedoch fanden Gefallen an dem neuen Spiel, das sie fortan Friss-die-Maus nannten. Von da an drohten sie mir immer mit Friss-die-Maus, wenn sie nicht mit mir zufrieden waren. Und manchmal, wenn sie die Langeweile trieb, zwangen sie mich einfach so dazu.«
    Josh leerte sein Glas in einem Zug und schenkte sich wieder ein. »Viel schlimmer als die Quälereien war aber, dass ich zu ihrem Komplizen wurde. Ich habe gelacht und Grimassen gezogen, wenn sie andere erniedrigten, wenn sie auf ihren Schwächen herumtrampelten. Ich habe sie auf ideale Opfer aufmerksam gemacht, und das nicht nur zum Selbstschutz. Vielmehr empfand ich es als besondere Genugtuung, wenn andere anstatt meiner gequält wurden. Da gab es zum Beispiel Benjamin Strobel – Ben, der Stotterer. Der Junge brachte keinen klaren Satz zusammen, wenn er nervös war. Auf meinen Vorschlag hin zwangen sie ihn, die erste Strophe der Loreley aufzusagen. Bei jedem Fehler musste er ein Glas Wasser trinken und von vorne beginnen. Ben kam nie über die erste Zeile hinaus, und wir hatten teuflischen Spaß. Das Spiel zog sich endlos hin. Irgendwann musste Ben pinkeln, das durfte er aber nicht. Erst als sich eine Lache auf dem Boden gebildet hatte und er weinend versuchte, den nassen Fleck auf seiner Hose zu verdecken, ließen wir von ihm ab.«
    Abermals leerte Josh sein Glas. Mit dem Handrücken wischte er sich über den Mund.
    »Ich war der perfekte Hofnarr: klein, unterwürfig, immer lustig und manchmal gehässig. Ich war so gut, dass sie mich für einen Verbündeten hielten, einen Bruder im Geiste. Im Grunde stimmte das sogar. Ich heischte nach ihrer Aufmerksamkeit, jedes noch so beiläufig ausgesprochene Lob machte mich stolz. Die Zeit schritt voran, die Zweckgemeinschaft wuchs zusammen. Die Spiele der Mädchen veränderten sich, wurden anzüglicher, sexueller. Manchmal zogen sie sich vor mir aus, und ich durfte ihre Kleider halten. Ein andermal musste ich ihnen nackt Modell stehen. Sie schmückten mich mit Girlanden und lachten über meine Unreife. Irgendwann, sagten sie, würden sie mich zum Mann machen. Obwohl ich nicht genau wusste, was sie damit meinten, hätte ich dafür alles gegeben. Ich habe die Wärterinnen bewundert, ich glaube, ich habe sie sogar geliebt. Das werde ich mir nie verzeihen.«
    »Menschen, die in Abhängigkeit anderer geraten, reagieren häufig so. Und Sie waren noch ein Kind«, versuchte Marion zu beschwichtigen.
    »Mit der Ausrede habe ich es auch schon versucht. Sie ist aber kein Trost.« Josh seufzte. »Kommen wir zum Höhepunkt der Tragödie. Die Wärterinnen wurden immer selbstsicherer, keiner widersetzte sich ihnen. Es war

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