Fingermanns Rache
die Schranken wies.
Wer als Erster den Reim vom Fingermann entdeckt hatte, weiß ich nicht. Ich kann mich nur an einen Aufschrei erinnern und dass es dann totenstill wurde. In fluoreszierendem Grün prangte der unheilvolle Spruch an allen Wänden. Ich verkroch mich unter meine Bettdecke, ängstlich darauf bedacht, dass kein Körperteil zu sehen war. Es folgten Minuten unendlicher Angst. Der Reim entwickelte in meiner Vorstellung eine solche Leuchtkraft, dass ich ihn durch die Decke und meine geschlossenen Augenlider hindurch deutlich sehen konnte. Mir war unendlich heiß, ich weinte, und ich glaubte, ersticken zu müssen. Dann vernahm ich das Knarren der großen Doppeltür, und irgendjemand betrat den Saal. Ich wagte nicht zu atmen und begann am ganzen Körper zu zittern. Ich konnte das Zittern nicht unterdrücken und war mir sicher, dass er mich holen würde, der Fingermann. Doch anstatt meiner schrie jemand anderes. Ein so markerschütternder Schrei hallte durch den Saal, dass ich, ohne zu überlegen, unter meiner Decke hervorlugte. Eine Gestalt hatte Loki unter ihren Arm geklemmt. Sie war riesig, der Kopf von einer Kapuze verdeckt. Loki zappelte hilflos, die Gestalt wandte mir ihr Gesicht zu. Ich glaubte, zwei rotglühende Augen zu erkennen. Dann drehte sich die Gestalt um und verschwand mit ihrem hilflosen Opfer.«
Ungläubig schüttelte Marion den Kopf. »Kronthal hat tatsächlich den Fingermann zum Leben erweckt. Das muss für viele Kinder ein traumatisches Erlebnis gewesen sein.«
»Ja, das war es«, stimmte Josh zu. »Als Erwachsener kann ich natürlich all die Geschehnisse rational erklären, aber damals hat der Fingermann tatsächlich existiert – ein Alptraum war Wirklichkeit geworden. Und dieser Alptraum hat mein Leben nachhaltig beeinflusst. Selbst heute wache ich noch schweißgebadet auf, die Decke überm Kopf, die Knie von den Armen umschlungen. Der Fingermann ist mein Schicksal, den werde ich nicht mehr los.« Josh betrachtete den Rotwein und seufzte. »Das Entsetzen fand aber noch kein Ende. Zwei Tage später, als wir alle vollkommen eingeschüchtert bei den Hausaufgaben saßen, kehrte Loki zurück. Er kam einfach in das kleine Zimmer neben der Bibliothek und setzte sich zu uns. Wortlos legte er seine linke Hand auf den Tisch. Sie war dick verbunden. Langsam entfernte er den Verband. Als er die Mullbinde abzog, musste ich schreien – der Fingermann hatte ihm tatsächlich einen Finger amputiert!
Loki betrachtete seine Hand wie einen Fremdkörper und berichtete nüchtern, was geschehen war. Offensichtlich stand er immer noch unter Schock. Er wusste nicht, wie es zu der Amputation gekommen war. Schon als der Fingermann ihn aus dem Bett gezerrt hatte, hatte er einen Stich im Arm verspürt. Bald darauf erlahmten seine Kräfte, und er verlor das Bewusstsein. Am darauffolgenden Tag war er auf der Krankenstation aufgewacht. Ein dumpfer Schmerz hatte ihn geweckt. Seine Hand war verbunden. Der Heimarzt kam und wechselte wortlos den Verband. Loki sah die Wunde und wurde ohnmächtig. Später stand Essen an seinem Bett, die Nacht verbrachte er schlaflos. Entlassen wurde er vom Heimarzt, der hoffte, dass ihm das eine Lehre sei.«
Marion konnte kaum an sich halten. »Dieser Kronthal und alle anderen Verantwortlichen, das sind Verbrecher. Wie kann man einem Menschen nur so etwas antun? Wie konnten so viele Leute solch eine Ungerechtigkeit zulassen? Dieser Psychoterror, die Amputation, das muss man sich mal vorstellen. So was ist nur in einem Unrechtsregime wie der DDR möglich.«
Josh winkte ab. »Ach, hören Sie doch auf. Systematische Kinderarbeit, Erniedrigungen und Prügel waren in den christlichen Kinderheimen der BRD an der Tagesordnung. Ost und West schenken sich da gar nichts. Und jüngst wurden doch Misshandlungen in dieser angesehenen Schule bekannt.« Josh blickte ins Leere. »Letztendlich geht es um Macht, und sobald ein Mensch Macht über einen anderen hat, ist Charakterstärke gefragt. Viele besitzen diese Charakterstärke nicht, und wenn dann noch die Kontrollen versagen, dann kommt es zu solchen Katastrophen. Ein Kronthal zum Beispiel hätte niemals die Position eines Heimleiters bekleiden dürfen. Ihm fehlte jegliche soziale Intelligenz. Dennoch glaube ich nicht, dass er etwas mit der Amputation zu tun hatte.«
»Und wie kommen Sie darauf?«
»Nun, es war nicht mehr nötig. Mit dem Auftritt des Fingermanns hatten wir alle unsere Lektion erteilt bekommen. Keiner hätte es gewagt, gegen
Weitere Kostenlose Bücher