Fingermanns Rache
irgendeine Regel zu verstoßen. Kronthal hatte sein Ziel erreicht. Aber da gab es noch die Wärterinnen. Beide hatten sich gut erholt, sie standen kurz vor der Entlassung aus der Krankenstation. Sie waren also in Lokis Nähe. Ihr Hass war grenzenlos, Skrupel kannten sie nicht. Nach meinen Erfahrungen mit den beiden traue ich ihnen diese Tat vorbehaltlos zu. Unterstrichen wird meine These durch das Verhalten von Dr. Kronthal. Selbst geschlossene Fenster konnten damals nicht verheimlichen, dass er die Kontrolle über die Mädchen verloren hatte. Er schrie und tobte, er züchtigte sie mit dem Rohrstock. Die Spuren seiner Wut waren deutlich in ihren Gesichtern zu erkennen, als sie noch am Tag ihrer Entlassung von zwei Fahrzeugen weggebracht wurden. Beide wurden seitdem nie wieder im Heim gesehen. Ruhe kehrte damit jedoch nicht ein. Loki verhielt sich anders als erwartet. Nachdem er den Schock überwunden hatte, begehrte er gegen alles und jeden auf. Keine Drohung und keine Strafe konnten ihn in die Schranken weisen. Mehrmals ging er auf Betreuer los, das weibliche Personal machte einen Bogen um ihn. In seinen Augen stand blanker Hass, manchmal flackerte Wahnsinn auf. Zu allem Überfluss wurde aufgrund der vergangenen Zwischenfälle eine Untersuchungskommission eingesetzt. Anscheinend hatte jemand anonym eine Anzeige erstattet, offiziell traute sich keiner – Kronthals Einfluss war groß, er war in der Partei und wurde von ihr unterstützt. Die Anzeige lautete auf Missbrauch und Verstümmelung von Schutzbefohlenen. Da Loki der lebende Beweis dieser Anklage war, musste er weggeschafft werden.«
Marion horchte auf. »Laut meiner Informationen starb er im August 1966 an Hirnhautentzündung. War das vielleicht gar nicht die Todesursache, könnte man ihn ermordet haben?«
»Nein. Kronthal war zwar ein Verbrecher, aber ein Mörder war er nicht. Lokis Tod war fingiert, man hat ihn nur weggeschafft.«
»Also doch.« Marion sah ihren längst gehegten Verdacht bestätigt. Aber um sicherzugehen, musste sie nachhaken. »Frau Eisen hat mir Lokis Tod bestätigt.«
»Frau Eisen? Die gibt es noch?« Um Joshs Mundwinkel bildete sich ein verächtlicher Zug, der Bände sprach. »Sie war eine hundertprozentige Kronthal-Anhängerin. Sie bewunderte den Herrn Doktor, seine Lehren waren ihr Befehl. Mit Ledergürtel und Rohrstock prügelte sie jegliche Unbekümmertheit aus uns heraus. Natürlich hält sie an der offiziellen Version fest. So wie alle anderen auch. Dafür wurde schon gesorgt.«
»Und wieso kennen Sie eine andere Version?«
»Weil ich mit eigenen Augen gesehen habe, was wirklich geschehen ist. Die Hirnhautentzündung war nämlich nur vorgeschoben, um Loki von uns anderen zu trennen. Er wurde im Quarantänezimmer untergebracht. Zum selben Zeitpunkt lag ich mit gebrochenem Arm auf dem gleichen Stock. In der Nacht konnte ich wieder mal nicht schlafen – der Fingermann ließ mir keine Ruhe. Auf dem Gang vernahm ich Geräusche, das Klirren eines Schlüsselbundes, verhaltene Anweisungen, dann ein Schrei, der abrupt abbrach. Ich schlich zum Schlüsselloch und sah zwei Männer, die Loki trugen. Er schien zu schlafen. In ihrer Begleitung war Dr. Kronthal. Meine Neugier siegte über meine Angst, und ich folgte ihnen über den Gang. Von einem rückwärtigen Fenster aus konnte ich dann sehen, wie die Männer Loki in einen Wagen brachten und nach ein paar Worten mit Kronthal wegfuhren. Am nächsten Tag hieß es dann, dass Loki gestorben sei.«
»Und was war mit Wilbur? Haben Sie ihm davon erzählt?«
»Nein. Ich wollte nicht ungehorsam sein. Meine Angst vor dem Fingermann war zu groß. Vergessen Sie nicht, ich war ein Kind. Ich habe ihn gesehen, ich habe an ihn geglaubt. Nur die Braven verschont er, heißt es in dem Gedicht. Ich wollte brav sein, ich wollte nicht seinen Groll auf mich ziehen. Daher behielt ich mein Geheimnis für mich.
Wilbur reagierte auf den Tod seines Bruders auf seine Art – er wollte ihn rächen. Und hier beginnt der letzte Akt dieser Tragödie. Die Untersuchungen im Heim sollten bald anlaufen. Um aber Kronthal und die Wärterinnen zu überführen, um dem Heimleiter die Misshandlung eines Schutzbefohlenen nachzuweisen, bedurfte es eines Beweises. Von uns, das wusste Wilbur, würde sich keiner gegen Kronthal stellen, und seiner alleinigen Aussage würde niemand Glauben schenken. Wenn es eine Leiche seines Bruders gegeben hätte, dann wäre sie, wie damals in der DDR üblich, verbrannt worden. Da sah er nur noch
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