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Fingermanns Rache

Fingermanns Rache

Titel: Fingermanns Rache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christof Weiglein
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einen Ausweg – er musste sich selbst verstümmeln.«
    Marion atmete hörbar aus, Josh verschränkte seine Arme. »Ein Finger der rechten Hand. Mit einer der Stanzen. Genutzt hat es nichts. Zu offensichtlich war seine Tat. Er dachte, er könne sich die Hand abbinden und dann die Kommission von der Schuld Kronthals überzeugen – der dumme Junge. Man hat ihn im Keller gefunden, das Gesicht von trotzigem Schmerz gezeichnet, aber keine Träne in den Augen. Wilbur kam für ein Jahr in psychiatrische Behandlung. Kronthal wurde versetzt – er stolperte die Karriereleiter hinauf, durfte aber nie wieder mit Kindern oder Jugendlichen arbeiten. Zwar konnte man ihm nichts nachweisen, aber es gab einige vernünftige Menschen, die seine Verfehlungen erkannten. Für mich und alle anderen Brückianer begann jetzt eine bessere Zeit. Keine Wärterinnen mehr und ein neuer Heimleiter, dem unser Schicksal wirklich am Herzen lag.«
    Josh versuchte ein Lächeln, als ob er sich für diese Geschichte entschuldigen wollte, dann zog er den Koffer zu sich her.
    »Das Bild von den Mädchen, kann ich das haben?«, fragte Marion.
    »Immer im Dienst«, antwortete Josh und reichte es ihr.
    »Ja«, seufzte Marion und sah ihm zu, wie er seine Vergangenheit wieder auf den Schrank stellte. Abermals hatte der Fall eine Wendung genommen. Wilburs Bruder hatte also das Heim überlebt. Er war der zweite Entführer, er war Loki. Diese Wendung bestätigte ihr Bauchgefühl, das sie seit ihrem Wissen um Wilburs Zwillingsbruder hatte. Doch was brachte ihr diese Erkenntnis? Marion versuchte sich ein Bild zu machen: Irgendwann nach Lokis vermeintlichem Tod musste es ihm gelungen sein, mit Wilbur Kontakt aufzunehmen. Vielleicht war die Wende der Anlass. Wer wusste das schon? Fakt war, dass die beiden sich zusammengetan hatten und mit großem Aufwand einen verwirrenden Plan verfolgten, der wohl Rache zum Ziel hatte. Dr. Kronthal war tot, somit konnten nur die Wärterinnen gemeint sein. Die beiden dürften jetzt Anfang sechzig sein. Marion musste sie finden.
    Warum aber trieben die beiden Brüder einen solchen Aufwand? Eine Frage, die sie sich schon oft gestellt hatte. Und warum ließ sich einer von ihnen in aller Öffentlichkeit erschießen? Was war so groß, dass man dafür seinen eigenen Tod in Kauf nahm? Ein Grund konnte der Hang zur großen Inszenierung sein. Was für ein Schauspiel: der Tod vor den Augen der Welt und dann die Wiederauferstehung. Marion war sich sicher, dass Wilbur mit einem Paukenschlag zurückkehren würde. Wer aber von den beiden Brüdern noch lebte und diese Rolle übernehmen würde, das wusste sie nicht. Zwar gab es die DNA -Analyse, jedoch hatte die bei eineiigen Zwillingen keine Aussagekraft. Sicherheit würde nur eine einfache Sichtkontrolle liefern: Bei Wilbur fehlte ein Finger an der rechten Hand, bei Loki an der linken. Marion schaute auf ihre Uhr. Es war kurz vor Mitternacht, zu spät um jetzt noch jemanden anzurufen.
    »Wollen Sie noch einen Schluck?« Josh goss den Rest des Weines in die Gläser und riss Marion aus ihren Gedanken.
    Josh lehnte sich zurück und trank. Marion beobachtete ihn. Er wirkte müde. Wie klein doch der Unterschied zwischen Lach-und Sorgenfalten war.
    »Meinen Sie, Sie können heute Nacht schlafen?«, fragte sie.
    »Weiß ich nicht. Wenn’s gar nicht geht, fahre ich raus. Draußen auf See kann mir der Fingermann nichts anhaben.«
    Marion nickte und wollte noch etwas sagen, doch es fiel ihr nichts mehr ein. So saßen die beiden stumm am Tisch, bis die Gläser leer waren. Marion verabschiedete sich, und Josh gab ihr einen Kuss auf die Wange. So würde er es bei seinen Töchtern auch immer machen, sagte er.
    Die Nacht war sternenklar, kein Wind regte sich.
    Marion schlenderte zur Schaukel. Das Holz knarrte, als sie sich setzte. Vorsichtig stieß sie sich ab.
    Pippi Langstrumpfs Lied kam ihr in den Sinn. Die Melodie vermischte sich mit dem Rauschen des Meeres.
    Immer kräftiger holte sie Schwung. Mit jedem Schwung kam sie den Sternen näher.
    Irgendwann ließ sie los und verlor sich im Unendlichen.

Die ganze Hand?
    Tag elf, Mittwoch, der 23. April
    Lotte, Joshs Schwägerin, war eine resolute Frau mit kernigem Humor.
    »Wenn Sie das Brötchen nicht aufessen, müssen Sie Küchendienst leisten«, sagte sie und legte noch zwei Scheiben Wurst auf Marions Teller. »Ihr jungen Dinger habt viel zu wenig auf den Rippen. Mein Karl hat immer gesagt: je besser gefedert, desto mehr Spaß. Und wir hatten viel

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