Finish - Roman
O’Grady ein, den Adam Clark in San Antonio abgeholt hatte. Beim Warten in einem Freudenhaus in San Francisco sei ihm ein Katalog von Sears Roebuck in die Finger geraten. Auf Seite 125 sei er auf eine Anzeige für lacklederne, mit Nägeln besohlte Laufschuhe gestoßen – »von Profiläufern Englands und deren Antipoden erprobt«.
O’Grady hatte die Seite herausgerissen und sie dem Brief beigelegt, und die beiden Clarks hatten den Werbetext regelrecht verschlungen. Die Schuhe sahen aus wie schwarze Halbschuhe mit sechs spitzen Nägeln unter jeder Sohle und wurden angeblich von englischen Laufgrößen wie Hutchens aus Putney und Gent aus Darlington getragen. Sie kosteten zehn Dollar das Paar inklusive Versand, und wenn Billy Joe an die matschigen, rutschigen Straßen der Grubenstädtchen zurückdachte, waren sie bestimmt ihr Geld wert. Sofort brachte er 20 Dollar auf den Weg.
Mitte Februar trafen die Schuhe in San Antonio ein. Billy Joe konnte es gar nicht abwarten, sie auszuprobieren, doch sein Vater riet ihm zur Vorsicht. Es sei doch klar, dass diese neumodischen, nagelbesohlten Schuhe sich aufs Laufen auswirkten, womöglich sogar eine Muskelzerrung hervorriefen. Also war Billy Joe brav in seinen neuen Schuhen auf- und abgetrabt und hatte die Geschwindigkeit langsam gesteigert. Doch nach sechs Läufen entlang der Viehweide beschloss er, es darauf ankommen zu lassen. Es war eine Offenbarung. Zum ersten Mal hatte er das Gefühl, richtigeBodenhaftung zu haben, vor allem anfangs beim Beschleunigen. Zum ersten Mal konnte er förmlich spüren, wie sich die Muskelkraft seiner Oberschenkel und Waden gegen den Boden stemmte. Und selbst bei Höchstgeschwindigkeit schienen da noch andere, tiefere Reserven zu sein, die er mobilisieren konnte.
In einem weiteren Brief forderte O’Grady ihn auf, ihn am 21. Mai in Wichita zu treffen und sein gesamtes Geld mitzubringen. O’Grady verschwieg, dass er seine eigenen Ersparnisse des vergangenen Herbstes in Freudenhäusern und Spielhöllen in San Francisco durchgebracht hatte. Billy Joe hatte seinen Fuchs gesattelt, seine Roebuck-Spikes eingepackt und sich auf den Weg Richtung Norden gemacht, um O’Grady im Palace Hotel in Wichita zu treffen.
Er hatte einige Zeit für den Weg gebraucht und zahlreiche Zwischenstopps eingelegt, denn zu viel Zeit im Sattel schadete den Beinen. Er überlegte, dass ihm noch nie in seinem Leben ein guter Läufer mit O-Beinen untergekommen war. Alle zwei, drei Tage fand er eine geeignete Stelle in einem Tal oder einem kleinen Canyon und vertrat sich die Beine mit einem lockeren Trainingslauf. Er war jetzt ein Profi, sagte er sich, und von nun an gab es für seinen Geist und Körper nichts anderes als den schmalen Tunnel zwischen Start und Ziel.
Doch als er am Abend des 20. Mai im Palace eintraf, war O’Grady nicht da. Es blieb ihm also nichts, als zu warten. Zwei Tage brachte Billy Joe auf seinem Zimmer damit zu, die Zeit bis zum Beginn seiner ersten Profisaison mit Hunderten von Liegestützen totzuschlagen und die nunmehr pergamentpapierdünne Bell’s Life zu lesen, die er inzwischen auswendig kannte.
Dann kam der Brief. Als er am Morgen des 23. Mai zum Frühstück ging, steckte er in einem Fach an der Rezeption. Er lautete:
Ellsworth,
Kansas
3. Mai 1874
Sehr geehrter Mr. Speed,
da ich leider nicht das Glück hatte, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, bedauere ich es umso mehr, Ihnen hiermit eine traurige Nachricht überbringen zu müssen.
Ihr Freund Mr. Alexander P. O’Grady weilt nicht länger unter uns. Vor drei Tagen geriet Mr. O’Grady wegen eines Pferderennens mit einem Gentleman namens Curly Bob aneinander. Offenbar hatte sich Mr. O’Grady eines Pferdetausches schuldig gemacht und versuchte, darob zur Rede gestellt, gegen seinen Beschuldiger zu ziehen. Dies erwies sich als fataler Fehler, den Mr. O’Grady mit zwei Treffern in die Brust büßte, an denen er zwei Tage später verstarb. Ehe er die Augen schloss, bat er mich, Sie zu kontaktieren und Ihnen zu sagen, dass Sie Ihre Läuferkarriere nun ohne ihn fortsetzen müssen, wozu er Ihnen alles Glück der Welt wünscht.
Ihr ergebenster
Elias Crane (Bestatter)
PS: Für die Beerdigung ist eine geringfügige Summe von 4,50 Dollar angefallen (die ich von meinen eigenen Ersparnissen ausgelegt habe). Ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie diese begleichen könnten, sollten Ihre Wege Sie je in diese Richtung führen.
Wie vom Blitz getroffen, hatte Billy Joe in der Halle des Palace
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