Finn und der Kristall der Zeit (German Edition)
schob den Fensterriegel zurück und öffnete das Fenster. Nachdenklich sah er nach unten. Es war weit höher, als er gedacht hatte, aber wenn er es schaffte, die Regenrinne zu erreichen, konnte er sich vielleicht ein Stückchen daran entlang hangeln und dann das Rohr hinunter rutschen. Gefährlich war das Ganze aber trotzdem.
Während er noch grübelte, sah er hinter dem Auto der Schmidts eine Bewegung. Seine eigenen rotblonden Haare lugten dahinter hervor, und das Gesicht, das seinem so sehr glich, guckte um die Ecke und lachte ihm zu.
„Ich komme nicht raus!“, versuchte Finn seinem Bruder nur mit Mundbewegungen klar zu machen. Tom sah ihn nachdenklich an, dann an der Mauer empor und nickte. Leise schlich er sich zu dem Fenster der Gaststube. Finn sah neugierig nach unten. Er konnte nicht genau sehen, was Tom anstellte, aber plötzlich bewegte sich mit leisem Quietschen einer der hölzernen Fensterläden. Finn verstand sofort. Er kletterte aus dem Fenster und suchte mit dem Fuß die Oberkante des Fensterladens. Dann ließ er seinen eigenen Fensterrahmen los, rutschte mit dem Fuß an der Querverstrebung des Fensterladens entlang und schaffte es gerade noch, seine Finger in das Holz zu krallen. Von dort aus war es jetzt nur noch ein kurzer Sprung bis zum Boden.
Im Vorbeirutschen sah Finn, wie der dicke Wirt zum Fenster geschossen kam. So schnell er konnte drehte er sich um und rannte er mit Tom los, fort von dem Wirt, der gerade das Fenster aufriss und wütend hinter ihnen her brüllte.
In seinem Hemd knisterte der Umschlag.
Die Jungen waren schon vom Markt zurückgekommen. Es schien ein wirklich erfolgreicher Tag gewesen zu sein; der alte Korb war voller Obst, Gemüse und sogar einigen Würstchen. Der kleine Mark beobachtete Justus misstrauisch, der sich auffällig in der Nähe des Korbes zu schaffen machte. Tatsächlich schien Justus am meisten Hunger zu haben; schon wieder kaute er an einem Stück Brot, aber ohne Zweifel lieber schienen ihm die Würste zu sein.
Finn hatte nach all der Aufregung auch wieder Appetit, aber man entschloss sich, mit dem Essen auf Lucy zu warten. Auch der Zeitpunkt, die Unterlagen anzusehen, schien ihm noch nicht gekommen zu sein, also packte Finn sie mitsamt Rosies Briefen und seinen alten Kleidern in eine Ecke des Salons und ging ohne sie zurück in die Küche. Lucy gehörte dazu, und ohne Lucy wollte er nichts Einschneidendes unternehmen – wenn auf den Papieren überhaupt irgendetwas Wichtiges stand. Schließlich konnte es sich um alles Mögliche handeln, Baupläne für ein Haus etwa, oder Einkaufszettel, wie die alte Kaja sie schrieb, bevor sie auf den Markt zum Einkaufen ging.
Bei dem Gedanken, einen Einkaufszettel hervorzuholen, musste Finn ein wenig grinsen, aber plötzlich begann er sich beklommen zu fragen, ob Lucy auch nichts passiert war. Hätte sie nicht längst hier sein sollen? Vielleicht hatten die Schmidts sie geschnappt und das Geheimnis dieses alten Hauses aus ihr heraus gepresst?
Die anderen schienen sich nicht allzu sehr zu sorgen. Justus hatte die Belagerung des Korbes einstweilen aufgegeben und malte mit einem Bleistiftstummel auf einer alten Zeitung herum. Rudolf, der ganz offensichtlich lesen konnte, war in ein zerfleddertes Buch vertieft. Finn hätte ihn zu gerne gefragt, worum es sich handelte und wo er das Buch her hatte, wollte aber auch nicht stören. Der kleine Mark lag, in seine Decke eingewickelt, gegen die Wand gelehnt und schien eingeschlafen zu sein. Lediglich Tom lief herum, schürte ein kleines Feuer in einer Art altem Eisenkorb, den Finn schon am Morgen gesehen, aber nicht hatte einordnen können. Jetzt wurde ihm klar, dass über diesem Korb wohl manchmal Essen gekocht wurde und dass, wie er annahm, auch noch zusätzlich zu dem alten Kamin damit geheizt worden war.
Im Winter mochte diese Art der Heizung unzulänglich gewesen sein. Zwar sorgten die kaputten Fenster und die Risse im Mauerwerk sicher dafür, dass das Haus von innen nicht verrußte, aber genau durch diese Risse und kaputten Fenster zog sicher auch der Wind ganz furchtbar. Jetzt aber, im Frühling, war die Wärme, die der Metallkorb mit seinen brennenden Zweigen und Hölzern von sich gab, genau richtig.
Gerade als sich Finn entschloss, Tom nach Lucy zu fragen, klapperte es an der Hintertür und Lucy stürmte hinein. Finn lächelte. Das Mädchen schien nie ruhig gehen zu können, immer war sie in Bewegung, wie ein frischer Wind, der durch die alten Mauern tobte
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