Finn und der Kristall der Zeit (German Edition)
dachte Finn. Denn reich war Lucys Familie nun ganz sicher nicht.
Der Gedanke tröstete Finn ein wenig. Außerdem, so stellte er fest, sah er in der alten Kleidung seinem Bruder noch ein bisschen ähnlicher. Nur an den Schuhen würde man erkennen können, wer von ihnen welcher Junge war. Tom trug alte Schuhe mit Rissen an den Nähten, die ihm viel zu groß waren; sicher ein ausrangiertes Paar irgendeines Erwachsenen. Noch war es zeitig im Frühjahr, doch sobald es Sommer und damit noch ein wenig wärmer würde, würde Tom, wie die meisten ärmeren Kinder die Finn kannte, wohl barfuß laufen. Und selbst der Sohn des Kaufmann Ambrose (Finn musste lachen bei diesem Gedanken) zog sich, wenn der Vater es nicht mitbekam, gerne die Schuhe aus und lief barfuß über die Felder.
St. Servatius war ein kleines, altes Kirchlein, welches ziemlich versteckt in einer ruhigen Seitenstraße lag. Beinahe ehrfürchtig betrachtete Finn die alten, grauen Stufen, die zur verwitterten Eingangstür führten. Hier also hatte man seinen Bruder gefunden, in eine Decke gewickelt und mit einem Zettel bei sich, auf dem der Name – der falsche Name – stand.
Es bereitete Finn keinerlei Probleme, sich die Szene auszumalen. Zu oft schon hatte er in Gedanken versucht, sich seine eigene Geschichte vorzustellen, die Kälte, das plötzliche Gewitter, von dem der alte Nachtwächter erzählt hatte, und an das sich kaum jemand anders zu erinnern vermochte, wenn sich auch alle einig waren, dass irgendetwas sie alle aufgeweckt haben musste.
Die beiden Jungen hatten entschieden, alleine zur Kirche zu gehen, und jetzt standen sie beide andächtig vor dem Ort, an dem man Tom ausgesetzt hatte.
Finn warf einen scheuen Seitenblick auf seinen Bruder, der ganz in Gedanken versunken schien. Finn wollte ihn nicht stören, aber ein Gedanke ließ ihm plötzlich keine Ruhe mehr.
„Und dich hat man auch nachts gefunden?“, platze es aus ihm heraus.
„Ja, so hat man es mir erzählt“, bestätigte Tom. „Es war bitterkalt und es muss wohl ein Gewitter gegeben haben, bei dem irgendwo hier in der Nähe ein Blitz eingeschlagen hat. Der Pfarrer wird, denke ich, da wohnen.“ – er zeigte auf ein altes, windschiefes Häuschen mit grünen Fensterläden – „ Es ist das einzige Haus, von dem aus man aus dem Fenster die Treppenstufen sehen kann. Er ist anscheinend aufgewacht von dem Krach, hat aus dem Fenster geguckt und eine Frau gesehen, die auf den Stufen der Kirche stand, so hat man es mir jedenfalls erzählt.“
„Unsere Mutter vielleicht?“, fragte Finn atemlos.
„Nein, leider nicht. Es war Lucys Mutter.“
„Was???“
Finn war sprachlos.
„Sie war wohl unterwegs gewesen, warum auch immer, und da hat sie mich gefunden. Und aus irgendeinem Grund entschied sie sich, mich zu behalten.“
Tom runzelte die Stirn. Etwas an der Geschichte schien ihm Unbehagen zu bereiten. Er warf einen Blick zu Finn hinüber und seufzte.
„Ich weiß, dass sie mich nicht mochte, und ich dachte immer, irgendetwas an mir sei falsch. Ich wusste anfangs nicht, dass ich ein Findelkind und sie nicht meine richtige Mutter war. Irgendwann war sie dann mal so wütend auf mich, dass sie es mir an den Kopf geworfen hat. Ich sei nur ein unnützer Esser und nicht einmal ihr leibliches Kind. Ich habe mich gewundert – wenn sie mich doch nicht mochte, hätte sie mich auch einfach liegen lassen können. Ich glaubte dann lange Zeit, sie hätte es wegen des Geldes getan, das man für Pflegekinder bekommt, aber irgendwann fand ich heraus, dass das eigentlich lächerlich wenig ist. Und noch später dann hat man mir erklärt, dass sie mich nie offiziell als Pflegekind angenommen hatte. Sie hatte noch nicht einmal jemandem von mir erzählt. Alle glaubten, ich sei ihr leibliches Kind; der Zwillingsbruder von Lucy. Ich wusste nicht, dass Lucy einige Wochen jünger ist als ich, und Papiere hatte ich keine.
Und dann sollte ich in die Schule gehen, und da kam die ganze Geschichte raus. Man nahm mich ihr weg und steckte mich in ein Kinderheim.“
„Und das war nicht in Ordnung?“, fragte Finn erstaunt. Wenn er sich zwischen Fräulein Winter und der schrecklichen Frau hätte entscheiden müssen, er wüsste wohl, was er gewählt hätte!
„Ach, wir hatten genug zu essen, und es war warm, aber Lucy und ihre Geschwister fehlten mir und auch Lucys Vater, der war nett. Ein Säufer zwar, aber nett.
Das Heim war aber wirklich schrecklich.“
Tom zog die Schultern hoch und kickte in Gedanken
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