Finn und der Kristall der Zeit (German Edition)
versunken einen Stein über die Straße. Finn war sich nicht sicher, ob er weiter fragen sollte. Bestimmt war es Tom unangenehm, an diese Zeit erinnert zu werden. Andererseits wollte er wirklich gerne so viel wie möglich über seinen Bruder erfahren. Noch bevor er sich entscheiden konnte, sprach Tom aber schon weiter.
„Eines Nachts“, erzählte er, „habe ich aus Versehen ins Bett gemacht. Morgens hat mich dann die Heimleiterin aus dem Bett gezerrt und mich mit dem nassen, stinkenden Betttuch geschlagen. Vor allen Kindern.“
Tom senkte den Kopf bei der Erinnerung. Finn fühlte plötzlich eine unbändige Wut in sich aufsteigen. Diese Leute hatten Tom – seinen Bruder – vor allen Kindern gedemütigt. Geschlagen. Diesen liebenswerten Jungen, sein Ebenbild. Das Kind, mit dem er gestern noch Hand in Hand eingeschlafen war. Er wünschte, er wäre älter, größer. Mächtiger. So mächtig, dass er es diesen gemeinen Leuten heimzahlen konnte. Aber er war nur ein Junge, noch nicht einmal zehn Jahre alt. Scheu blickte Finn seinen Bruder an. Tom antwortete mit demselben Blick, und plötzlich war Finn klar, dass Tom Angst hatte, er, Finn, könnte ihn auslachen oder verachten. Er holte tief Luft.
„Ich hoffe“, sagte er mit belegter Stimme, „das war der Moment, in dem du aus dem Waisenhaus weg gelaufen bist!“
Tom lächelte erleichtert. „Das war der Moment!“, bestätigte er.
„Und wie hast du dann die anderen kennen gelernt?“, fragte Finn neugierig.
„Wollen wir nicht lieber zuerst mal mit dem Pfarrer reden?“, antwortete Tom. „Alles andere kann ich dir ja nachher erzählen.“
„Oh, natürlich“
Finn hatte beinahe vergessen, weshalb sie hergekommen waren. Gemeinsam gingen sie zu dem alten Pfarrhaus. Tom hob die Hand und klopfte an der rissigen Holztür.
Zuerst war gar nichts zu hören, dann aber begann es plötzlich irgendwo im Haus zu scharren und zu rumoren. Schließlich hörte man langsame Schritte, die auf die Tür zukamen. Und dann öffnete sich die Tür.
Finn glaubte, noch nie so einen alten Mann gesehen zu haben. Seine Augen waren beinahe farblos, sein Gesicht erinnerte mit all seinen Runzeln an altes Pergament. Er trug eine Anzughose mit Hosenträgern und ein sauberes, gebügeltes Hemd, dessen Ärmel aufgekrempelt waren. Auf der riesigen Hakennase saß eine verschmierte Brille, durch die er die zwei Jungen interessiert betrachtete. Als er zu sprechen begann, hatte Finn das Gefühl, eine alte Blechtrompete zu hören.
„Und, was verschafft mir die Ehre eures Besuches?“, krächzte der alte Mann. Finn wollte schon antworten, aber Tom war schneller.
„Sind Sie der Herr Pfarrer?“, fragte er höflich.
Der Alte brach in keckerndes Gelächter aus.
„Das war ich mal, Söhnchen, das war ich mal. Aber das ist schon eine ganze Weile her. Wenn ihr den jetzigen Pfarrer sprechen sollt, müsst ihr auf die andere Seite der Kirche gehen!“
Er zeigte mit seinem vom Alter knotigen Fingern in die Richtung der Kirche.
„Das neue Pfarrhaus ist dort drüben!“
„Aber“, wagte sich Finn vor, „Waren Sie vor neun Jahren noch Pfarrer?“
Der alte Mann sah ihn interessiert an. Dann rückte er seine Brille zurecht, betrachtete auch Tom noch einmal genauer und nuschelte: „Aber ähnlich seht ihr euch, ähnlich, wirklich. Als wäret ihr ein Junge!“
Finn warf Tom einen ratlosen Blick zu. Vermutlich war es wirklich besser, wenn sie zum anderen Pfarrer gingen und den fragten. Andererseits – das andere Pfarrhaus lag hinter der Kirche. Von dort aus hätte man die Stufen der Kirche gar nicht gesehen.
Tom machte einen weiteren Versuch.
„Haben Sie vor neun Jahren auf den Kirchstufen ein ausgesetztes Baby gefunden?“
Die Augen des Alten huschten jetzt von einem zum anderen. Finn musste an eine Maus denken, so schnell und unruhig, wie sie gemustert wurden.
„Da war aber nur einer damals!“, krächzte der Mann. „Nur einer, und die Frau hat ihn mitgenommen. Sie sagte, sie würde sich um alles kümmern.“
Er streckte seine Finger aus und umfasste Finns Kinn. Das fühlte sich ein wenig unangenehm an.
„Einer nur“, murmelte er. „Und ihr seid zwei.“
Finn versuchte vorsichtig, seinen Kopf ein wenig zurück zu ziehen.
„Können Sie sich denn noch an etwas erinnern?“, fragte er, nur um abzulenken.
„Ob ich mich an etwas erinnern kann?“, wiederholte der alte Mann mit keckerndem Lachen. „Ich kann mich an alles erinnern. Ich mag alt geworden sein, aber mein Gedächtnis,
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