Finn und der Kristall der Zeit (German Edition)
lag, und stellte fest, dass dieser ihn beobachtete.
„Worüber denkst du nach?“, fragte Tom ihn, als Finns Blick ihn traf.
„Ich frage mich, ob du auch gerne spielst“, antwortete Finn ehrlich. „Und womit. Ihr habt so viel wichtigere Sachen zu tun, dass ihr gar nicht richtig wie Kinder spielen könnt.“
Tom dachte einen Moment nach. „Als ich noch kleiner war“, sagte er dann mit so etwas wie Sehnsucht in seiner Stimme, „habe ich mir immer einen Ball gewünscht. Einer der Jungen aus der Straße hatte einen Ball. Er war rot, und schien mir das Wunderbarste auf der Welt zu sein. Und Mark“, fügte er leiser hinzu, „wünscht sich so sehr ein Spielzeugauto. Er hat es in einem Geschäft gesehen, aber es ist einfach zu teuer. Ich wünschte, ich könnte hingehen und es für ihn kaufen.“
„Und Rudolf ist mit seinen Büchern glücklich“, sagte Finn ebenso leise, damit ihn der große Junge nicht hörte. Vermutlich hätte er aber auch schreien können; Rudolf war so tief in seinem „Robinson Crusoe“ versunken, dass er nichts davon mitbekommen hätte.
„Und Justus mag wohl am liebsten Essen?“
„Natürlich“, bestätigte Tom. „Aber auch wünscht sich Spielsachen. Als er klein war, besaß er ein ganzes Regiment Zinnsoldaten. Als er seine Eltern verlor, hat man sie ihm weggenommen.“
„Wie hat er seine Eltern verloren?“, fragte Finn neugierig. Das war etwas, das ihn brennend interessierte, seit er in diesem Hause angekommen war. Es mochte ja stimmen, dass das Kinderheim, in dem man Tom untergebracht hatte, alles andere als schön war, aber es gab doch auch noch andere Kinderheime, solche wie die von Fräulein Winter, die sich mit den Kindern wirklich Mühe gab, wenn auch an allen Ecken und Enden etwas fehlte. Hatten diese fünf Kinder wirklich so viel Pech gehabt? Und gab es niemanden, der sich um sie sorgte?
„Justus‘ Eltern sind bei einem Zugunglück gestorben“, erzählte Tom. „Er ist dann zu seiner Tante gekommen, aber die hatte schon fünf eigene Kinder, und wollte Justus eigentlich gar nicht haben. Irgendwann hat er es nicht mehr ausgehalten und ist weg gelaufen. Wir haben ihm aus der Patsche geholfen, als er auf dem Markt versucht hat, etwas zu essen zu klauen, und dabei beinahe erwischt worden wäre.“
„Und Mark?“
„Mark war mit mir im Kinderheim.“
Tom runzelte die Stirn; irgendetwas schien ihm Unbehagen zu bereiten.
„Er hat sich damals so ein bisschen an mich gehängt, und als ich weglaufen wollte, da hat er das herausgefunden. Er ist mir einfach hinterher gelaufen. Ich weiß nicht, ob er es im Kinderheim nicht doch vielleicht besser gehabt hätte.“
„So wie du das Kinderheim beschrieben hast, kann er froh sein, dass er dort weg ist.“
Tom nickte.
„Das habe ich mir auch schon oft gesagt, aber ganz ehrlich – manchmal ist es hart so alleine. Im letzten Winter wären wir beinahe erfroren. Und manchmal finden wir einfach nicht genug zu Essen. Dann müssen wir stehlen. Haben wir auch schon gemacht. Und das ist natürlich gefährlich. Wenn sie uns erwischen…“
Er sprach nicht weiter.
Was mochte man mit Kindern tun, die beim Stehlen erwischt wurden? Ins Gefängnis stecken? Finn vermutete eher, dass man sie zurück ins Waisenhaus bringen würde, und dort wohl einsperren, damit sie nicht ein weiteres Mal weg liefen, so wie Tom es getan hatte.
Wobei das, was Tom erzählt hatte, sich mindestens so schlimm anhörte, wie ein Gefängnis.
„Und wie ist Rudolf zu euch gekommen?“, fragte Finn neugierig. Tom warf einen vorsichtigen Blick zu dem großen Jungen, der aber völlig in sein Buch versunken war.
„Eigentlich“, sagte er, „ist Rudolf nicht zu uns gekommen, sondern wir zu ihm. Mark und ich schliefen nachts unter einer Brücke, und es war fürchterlich kalt und wir hatten seit Tagen kaum etwas gegessen. An jenem Tag schlichen uns am Rande des Marktes herum und hofften, dass irgendwo etwas für uns liegen bleiben würde. Da hat er uns angesprochen. Er hat uns etwas zu Essen gegeben – ich weiß nicht, wo er es her hatte - und uns dann in dieses verlassene Haus mitgenommen. Er hat nie erzählt, wo er herkommt oder warum er alleine lebt. Das Einzige, was wir wissen, ist, dass er unheimlich intelligent ist und so gerne in die Schule gehen würde.
Manchmal schleicht er sich heimlich in eine Schule und lauscht vor der Tür dem Unterricht. Und wir glauben, dass er da auch die Bücher her hat, die er immer liest. Er leiht sich die wohl heimlich aus und
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