Finnen von Sinnen - Finnen von Sinnen
sich eigentlich kennengelernt, wenn ich fragen darf?«
»In Spanien, Andalusien«, sage ich.
»Aaaaah, Marbella, da war ich auch schon mal, hat mich mein Schwager letztes Weihnachten zum Golfen eingeladen. Schön da. Vor allem die Sonne.«
»Ja, wirklich sehr schön.«
GESPENSTER
A m Horizont flackern die Lichter Tangers, und aus der überfüllten Peña dringt Bebos raue Stimme bis weit hinaus auf die kalkweiße Promenade. Seit Stunden klagt sie von verlorener Liebe und verlorenem Glück: Aayyayaah, ayayayayaaah … qué no quiero suffrir, gitananaaaayaaah !
Später wird noch Elli de Barbate auftreten, gemeinsam mit einer frisch eingetroffenen holländischen Flamencogruppe, die alle nur Las vacas locas nennen, die in Wahrheit aber wohl einen anderen Namen trägt.
Auf einmal sitzt sie neben mir im blauen Blütenkleid, blass und schön, die Beine weit ausgestreckt. Genau wie jetzt.
Sie habe vier Jahre in den USA studiert, in Berkeley, San Francisco, daher wohl der Akzent. Kunst studiert, um genau zu sein. Nun lebe sie wieder in Finnland, behind God’s back , wie sie sich ausdrückt, in einer stillgelegten Bahnhofsstation mitten im Wald, alleine, und sie male, hauptsächlich.
In einem Bahnhof?
Ja, im Grunde ein riesiges Holzhaus, so ähnlich wie
Pippi Langstrumpfs Villa, nur einstöckig und rot gestrichen. Sie habe es als Achtzehnjährige gekauft, sehr günstig, weil es sonst niemand haben wollte, des Geistes wegen, der dort hause.
Aha.
Es handle sich bei dem Geist, soweit sie es beurteilen könne, um den letzten Bahnhofsvorsteher, der vor zwanzig Jahren bei einem Bootsunfall an Juhannus im nahen See ertrank und dessen Seele nun keinen Frieden finde. Eki sei aber in Wahrheit ein guter Geist, betont sie mit einem Lächeln auf ihren wunderbar hohen, von der Sonne leicht geröteten Wangen, der sie beschütze und bewache und ihr am liebsten vom Küchenfenster aus bei der Gartenarbeit zusehe. Ob sie uns nicht noch zwei Tintos holen solle?
Es war, als hätte eine Elfe sämtliche Saiten meiner Seelenharfe gleichzeitig zum Schwingen gebracht, und nichts auf der Welt, nicht einmal eine andalusische Mainacht, schien mir von diesem Moment an begehrenswerter als die Aussicht, sich mit diesem Geschöpf für einen unbestimmten Zeitraum in ihrem alten Bahnhof hinter dem Rücken Gottes - jumalan selän takana - zu verkriechen.
»Er tut dir nichts, glaub mir«, sagt sie, als sie in das staatlich bezahlte Taxi zum Busbahnhof steigt. »Und versuch zu schlafen, das ist ganz wichtig: schlafen. Ich bin ja schon in drei Tagen wieder da.«
»Geh mal, Schöne, das wird schon alles gutgehen hier.«
Ich laufe auf den Birkenhügel, koivumäki , hinauf, der
diesem Bahnhof einst seinen Namen gab, und sehe der Staubwolke des Taxis nach. Kaum zu glauben, dass hier vor zwanzig Jahren noch Züge hielten. Kein einziges Haus zu sehen, nur die Trasse der Schienen und ein kleiner, von Wäldern gesäumter See am Horizont.
Seit einem Monat hat niemand mehr an unsere Tür geklopft. Noch niemals in meinem Leben war ich so allein. Wie der letzte Mensch oder der erste. Und doch bin ich in diesem Moment »… nicht einsamer als eine einzelne Königskerze oder der Löwenzahn auf der Wiese, als ein Bohnenblatt oder Sauerampfer, eine Bremse oder eine Hummel. Ich bin nicht einsamer als der Bach, der Wetterhahn, der Polarstern, der Südwind, als ein Aprilschauer und die erste Spinne in einem neuen Haus …«, so lese ich im Schlafzimmer aus einem Buch, das Tante Vera mir mitgegeben hat und das dem Klappentext zufolge von dem radikalen Selbstexperiment eines jungen Mannes handelt, der sich in die einsamen Wälder zurückzieht, um ein Leben fernab aller Zivilisation zu führen.
Es lag noch aufgeschlagen neben dem Bett, als mich meine finnische Frau drei Tage später fand. Eingekauert und gründlich verstochen saß ich im Trainingsanzug an der lange verloschenen Feuerstelle, zwanzig Meter vom Haus entfernt, die Hände um eine Axt gekrallt.
Irgendwann in der Nacht des zweiten Tages muss ich beschlossen haben, an den See zu joggen, weil ich die Schlaflosigkeit nicht mehr aushielt und die Geräusche auf dem Dachboden immer deutlicher wie die schweren Schritte eines Menschen klangen. Das Einzige, woran
ich mich von diesen zweiundsiebzig Stunden noch deutlich erinnere, sind zwei schwarze Schuhe vor der Luke zum Dachboden und zwei schwarze Anzugbeine, die wie von Eis zu dampfen schienen. Das Radio in der Küche lief auf voller Lautstärke. Sämtliche
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