Finnen von Sinnen - Finnen von Sinnen
riesigen NOKIA-Winterreifen magisch zum Stillstand kommt. Superhinta steht auf der einfahrenden Nummer 4 zum Hafen, zwei freudig planschende Bikinimodels strahlen uns vom Werbefoto aus an: Lentomatka Kanarialle, vain 3199 markkaa/henkilö .
Die nächste 23 hinaus zu den Halinen, ins studentische Reihenhaus am Rande der Stadt, kommt erst wieder in einer halben Stunde. Es gibt kein Paradies, nur verschiedene Formen des Falls.
Am günstigsten schiene, auf allen vieren zu krabbeln,
aber ich habe meine Handschuhe mal wieder liegen lassen. Das dritte handgestrickte Paar in diesem Winter. Da wird sie schimpfen, meine finnische Frau. Ein Blick zurück auf die Leuchttafel am Dach des Sokos-Hotels. Ich habe lange gebraucht zu begreifen, dass diese Temperaturanzeigen vor allem motivieren sollen: -15 °C, ja, das ist kalt! Aber seht, wir sind trotzdem da! Wir warten trotzdem auf unseren Bus! Wir gehen trotzdem jeden Tag einkaufen!
Es geht nicht um aktiven Widerstand, das wäre ein lächerlicher Gedanke, sondern um den stillen Stolz des Ausharrens im Angesicht einer gleichgültig eisigen Macht, die dir mit jedem Schritt aufs Neue zu verstehen gibt: » Du bist hier nicht gewollt!«
Zehn Minuten für zweihundert Meter. Nur eine heiße Schokolade. Fürs Gemüt. Für die Hände. Die Brillengläser beschlagen sofort und verwandeln das Cosmic Comic Café für mich in eine riesige, orangegefärbte Sauna kurz nach dem löyly . Das Erste, was ich wieder deutlich erkenne, ist Franz, wie er mir vom Fenstertisch aus freundlich Zeichen gibt.
Vor fünf Monaten, bei unserem ersten Treffen, hatte er mir freudig berichtet, ein Übersetzungsstipendium von der finnischen Akademie erhalten zu haben. Er sei damit beauftragt worden, Adornos Ästhetische Theorie ins Finnische zu übertragen. 1 Seitdem sitzt er hier. Und nach seinen trüben Augen zu schließen hat er mal wieder die »Kontrolle über sein Moped verloren«, mopo lähti käsi-stä,
womit Finnen eine Sauftour beschreiben, die sich über mehr als achtundvierzig Stunden hinzieht.
Aber was auch immer er zu sich genommen haben mag, seinem sehr gewählten, wenn auch leicht antiquierten Deutsch vermag der Alkohol nichts anzuhaben, genauso wenig wie seinem Verstand.
Er wolle selbstverständlich nicht stören, sei andererseits aber »hocherfreut«, mich »bereits zu dieser frühen Stunde hier anzutreffen«, sagt er und stellt sein Bier, das er scherzhaft als »schwarze Milch des Morgens« bezeichnet, auf meinen Tisch.
An einem tristen Februarnachmittag in einer verrauchten Bierbar mit einem komplett besoffenen einheimischen Einzelgänger tief tönende Themen zu erörtern … Sie begreifen, das ist jetzt einer dieser Original-Kaurismäki-Momente, von denen Zehntausende deutscher Programmkinogänger träumen, während sie am Gepäckband des Terminals 2 von Helsinki-Vantaa auf ihren 75-Liter-Rucksack mit Alugestell warten. Es hat auch was, das will ich gar nicht leugnen. Ein Mal, zwei Mal, gerne auch mal eine Woche, vielleicht sogar einen ganzen November. Aber dann bleiben einem ansässig gewordenen Fremden immer noch zweihundert dunkelblaue Tage, durch die man durchmuss. Und nur auf Kaurismäki schafft man das nicht, so viel muss klar sein.
Denn der Alltag wird zur Allnacht, dunkel wie das finnische Brot und salzig wie die finnische Butter.
SUOMI BLUES
I ch greife wie jeden Morgen zur Zeitung, die irgendwelche Trolle auf Schneeschuhen um halb fünf Uhr morgens mit einer derart bedrohlichen Bestimmtheit durch einen Metallschlitz am unteren Ende der Haustür zwängen, dass ich immer wieder davon aufwache, ja, mittlerweile nicht einmal mehr angstfrei einschlafen kann. Jene Zeitung, von der mir meine finnische Frau mit fast schon sadistischem Sprachstolz versichert, ich würde sie selbst nach einem dreijährigen Intensivkurs auf Finnisch nicht lesen können, dem Helsingin Sanomat also, denn eine andere ernst zu nehmende Zeitung gibt es in diesem Land nicht.
Ich widme mich, wie es meine Gewohnheit geworden ist, zunächst dem Rücken des A-Bogens, wo es jeden Tag wieder um sää , also das sogenannte Wetter geht, denn alles ist besser als der Blick durch die doppelt verglaste Panoramascheibe des Reihenhauses am Rande der Stadt, wo man erste studentische Muggel mit dem Rücken voran durch die nachtblauen Schneeverwehungen zur Haltestelle waten sieht.
Das Wetter also, ganzseitig mit drei großen Grafikelementen: »Finnland am Vormittag«, Suomi tänään aamulla , »Finnland am Nachmittag«,
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