Finnisches Inferno: Kriminalroman (Arto Ratamo ermittelt) (German Edition)
Harbin feiern dürfen. Doch er wollte vermeiden, wegen der gebotenen Eile eine Fehleinschätzung zu treffen. Oder? Die Swerdlowsk-Mafia zahlte angeblich fürstliche Honorare. Tang starrte auf die Kalligraphie, die an der Wand hing. Der Künstler hatte seinen Lieblingsspruch mit vielFeingefühl gestaltet. »Am besten ist die Tür geschlossen, die du auflassen kannst«, las er zum hundertsten Male.
Irina kam aus der Dusche, warf das Handtuch auf den Stuhl und sammelte ihre Kleidungsstücke vom Fußboden auf. Ihre festen Brüste wippten vor Tangs Augen. Er spürte, wie ihm das Blut in die Lenden schoss, beherrschte sich aber und begnügte sich damit, ihr auf dem Weg ins Bad einen Schlag auf den Hintern zu geben.
»Mudak!«, zischte Irina, da sie sicher war, dass er es nicht hörte. Als im Bad das Wasser rauschte, durchwühlte sie Tangs Taschen. In seinem Kalender fand sich nichts Überraschendes. Ihr Entschluss, Tangs Joch zu entfliehen, war mit jedem Tag und mit jedem Akt fester geworden. Dafür gab es nur einen Weg: ein Verbrechen. Sie hatte sich fast zwei Jahre lang um Arbeit bemüht. Jedes beliebige ausländische Unternehmen wäre ihr recht gewesen; sie hatte ihren Lebenslauf sogar einem bulgarischen Headhunter geschickt. Aber sie fand nirgendwo einen Job, dafür hatte der SVR gesorgt. Und nach Russland würde sie nicht zurückehren.
Rasch drehte sich Irina mit Machorka eine Samokrutka, machte ein paar gierige Züge und betrachtete das chinesisch eingerichtete Schlafzimmer. Da die Farben der Trauer, Schwarz, Weiß und Blau, völlig fehlten, wirkte die Wohnung merkwürdig. Irina hatte über ihren Bruder der größten kriminellen Organisation in Sankt Petersburg ein Verkaufsangebot für die Kontendaten, die Kundennummern und das Passwort gemacht und erwartete, dass man es in den nächsten Stunden annahm. Aber Guoanbu war es immer noch nicht gelungen, Tommila zu entführen, Protaschenkos Unterlagen zu finden oder die Identität des »Hundes« zu klären. Tang war als Leiter so eines anspruchsvollen Projekts überfordert. Musste sie sich das Passwort bei Sterligow besorgen?
Igor Sterligow war ein Mann, den niemand zum Feind haben wollte. Ihn herauszufordern wäre Wahnsinn, überlegte Irina. Der KGB hatte Hunderttausende Mitarbeiter gehabt, aber es gab nur wenige Agenten, deren Ruf in der ganzen Organisation bekannt war. Der Waisenjunge aus Weißmeerkarelien hatte seine Ausbildung zum Spion am Moskauer Institut für Internationale Beziehungen und in der Schule Nr. 101 des KGB, der heutigen Akademie der Sicherheitsdienste der Föderation, erhalten. Sofort nach Abschluss des Studiums war der junge Mann in der Abteilung 8 des Auslandsnachrichtendienstes, der sogenannten V-Abteilung, eingesetzt worden, die auf Mordanschläge und Attentate spezialisiert war.
Über Sterligow kursierten viele seltsame Geschichten, die meisten waren zweifellos übertrieben. In einer Organisation mit der Struktur einer Armee haben Gerüchte und Legenden die Tendenz, wie eine Lawine anzuwachsen.
Als Sterligow von den anspruchsvollsten Einsätzen, die es in der Praxis gab, abgezogen wurde, gab es dafür einen guten Grund. Oberst Michail Ramanow erhielt im Dezember 1979 von KGB-Chef Juri Andropow den Befehl, eine Truppe zu formieren, die nach Afghanistan geschickt werden sollte. Auch Sterligow wurde dafür gebraucht. Man beorderte ihn in ein Spezialkommando aus Mitgliedern der Alfa- und Zenit-Einheiten, das ein Attentat gegen Hafizullah Amin ausführte, den Präsidenten der gerade gegründeten Volksrepublik Afghanistan. Als Moskau Babrak Karmal anstelle des liquidierten Amin einsetzte und die Mujahideen den Krieg gegen die Sowjetunion begannen, wurde Sterligow von der Guerilla gefangengenommen. Sie folterten ihn wochenlang, in seinem Körper gab es kaum noch einen heilen Knochen, als die russischen Speznaz-Einheiten ihn schließlich befreiten.
Nach seiner Genesung wollte Sterligow eine Schreibtischarbeitund beantragte eine Stelle in der dritten Abteilung der Hauptverwaltung »Auslandsaufklärung«, deren Aufgabe die Spionage gegen Großbritannien, Finnland, die skandinavischen Länder, Neuseeland und Australien war. Der blonde Mann, der Finnisch sprach, wurde der Gruppe zugeteilt, die man Suomi-Mafia nannte. Finnland war damals eine Art Versuchslabor für die Auslandsaufklärung des KGB und ein begehrter Einsatzort.
Es gab Gerüchte, Sterligow sei danach den Drogen verfallen. Jedenfalls zog er sich in seine eigene Welt zurück. Irina wusste,
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