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Finnisches Quartett

Finnisches Quartett

Titel: Finnisches Quartett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taavi Soininvaara
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befreien, und es gab nur einen einzigen Weg. Schon bei dem Gedanken wurde ihr übel, und sie bezweifelte, ob sie dazu fähig wäre, aber sie mußte es versuchen. Solch eine Gelegenheit bot sich nur einmal im Leben: Sie würde die Verderbtheit sowohl der Großmachtpolitik als auch der Großkonzerne enthüllen. Das würde der ganzen Welt nutzen.
    Der Gedanke verlieh Ulrike Kraft, sie überlegte einen Augenblick, wie Lasse handeln würde, und faßte einen Entschluß. Mit ihrer freien Hand drückte sie das Handwurzelgelenk des Daumens der gefesselten Hand nach innen, bis sie aufschrie. Die Bänder des Gelenks krachten, und vor Schmerzen wurde sie fast bewußtlos, aber die Handschelle rutschte immer noch nicht herunter. Sie richtete sich auf, krümmte den Rücken, legte die gefesselte Hand auf den Betonboden, biß die Zähne zusammen und trat mit aller Kraft auf die Hand.
    Sie verlor im selben Augenblick das Bewußtsein, als der Daumen ausgerenkt wurde. Das glaubte sie zumindest, als ihr klar wurde, daß sie der Länge nach auf dem Fußboden lag. Hatte sie eine Minute oder eine Stunde so gelegen, überlegte Ulrike und spürte ein Stechen an ihrem nackten Fußgelenk. Sie drehte sich um, sah eine Ratte, sprang auf und versuchte dem Nager einen Tritt zu versetzen, doch der schlüpfte mühelos davon.
    Das Schlimmste stand noch bevor. Sie hob ein Stück Holz auf, biß wie rasend hinein und schob den Metallring langsam vom Handgelenk in Richtung Finger. Er rutschte überraschend leicht herunter, da nun der Daumen ausgerenkt war. Vor Schmerz sah sie Sterne.
    Die Holztür des Kellers war alt, aber massiv. Zum Glück schien das Schloß altersschwach und verrostet zu sein. In einer Kellerecke fand sie einen geeigneten Holzknüppelund schob ihn zwischen Rahmen und Schloß; der Stock glitt langsam immer tiefer, bis er auf die Falle des Schlosses stieß. Der erste Tritt traf den Knüppel, und der Türrahmen krachte, der zweite Tritt brach den Rahmen auf. Ulrike zerrte an der Klinke, und die Tür flog auf, daß die Späne flogen.
    Sie war frei, Ulrike tastete nach dem Lichtschalter im Kellerflur und schwankte die Treppe hinauf. Der Schmerz klopfte vom Daumen aus in den ganzen Körper. Sie öffnete die Tür zum Treppenflur und erstarrte.
    »Haben Sie diese Frau gesehen oder nicht?« fragte eine Männerstimme in amerikanischem Englisch. »Sie ist eine Ausländerin und mit diesem blonden Mann zusammen unterwegs.« Ulrike vermutete, daß der Frager irgendeinem Hausbewohner Fotos zeigte. Wer war der Mann? Zumindest kein Polizist oder Gehilfe van der Waals, da er englisch sprach.
    Ulrike wartete, bis der Mann in die erste Etage hinaufging, lief vorsichtig zur Haustür und war geblendet vom hellen Sonnenlicht, das sie das erste Mal seit anderthalb Tagen sah. Jetzt würde alles erst anfangen.

37
    Der lange und breite Sandstrand von Scheveningen glitzerte draußen vor dem Taxi. Ratamo reichte dem Fahrer den Geldschein und sah, wie Möwenscheiße auf die Windschutzscheibe klatschte. Die vier Kilometer lange Fahrt vom Zentrum Den Haags in den ehemaligen Fischerhafen, die jetzige Urlaubsoase am Strand, war im Nu vergangen. Es ließ sich nicht sagen, wo Den Haag aufhörte und Scheveningen anfing. Ratamo fand, daß er sich ein geruhsames Mittagessen mit Riitta verdient hatte, da er die ganze Zeitnach der morgendlichen Beratung beim AIVD im Busineßcenter des Hotels verbracht und auf elektronischem Wege in Kontakt mit der Ermittlungsgruppe der SUPO gestanden hatte.
    Ratamo war zu früh da, er beschloß, ein Stück spazierenzugehen, und nahm Kurs auf den Strand. Einer Eingebung folgend, kaufte er an einem Stand voller Touristenkitsch eine CD von Shakira für Nelli und watete dann im Sand zum Meer. An einem Mainachmittag in der Woche zerwühlten außer ihm nur ein paar Familien mit Kindern den Sand. Ein eifriger Knirps bettelte seine Eltern an, er wolle unbedingt ins Wasser.
    Ratamo schaute auf die Wellen hinter dem gewaltigen Deich. Das Meer war ein natürlicher Psychiater. In der Regel half es ihm, zur Ruhe zu kommen und seine Gedanken zu ordnen, aber jetzt gingen ihm zu viele Dinge durch den Kopf: das Treffen mit Riitta, der unbekannte Vater, der in der französischen Botschaft gearbeitet hatte, und vor allem der Psychopath in seinem Kamelhaarumhang, der frei in Amsterdam herumlief. Riitta würde er jetzt gleich treffen, Kontakt mit der französischen Botschaft würde er aufnehmen, sobald er Zeit hatte, und den Mörder jagte vermutlich die Hälfte

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