Finnisches Requiem
Überraschungseffekt verspielt. Stangerup hielt ihre Waffe, also blieb für Ratamo die Schlüsselkarte. Er kannte diese Schlösser: Man mußte die Karte hineinstecken und gleich wieder herausziehen. Dann leuchtete es grün, und das Schloß öffnete sich. Versuchte man es zu hastig, konnte das Gerät die Karte nicht lesen, es leuchtete rot, und das Schloß öffnete sich nicht.
Ratamo holte tief Luft, schob die Karte hinein, zog sie wieder heraus, drückte die Klinke hinunter und stieß die Tür mit dem Fuß auf.
Stangerups Waffe zeigte in das Zimmer. Sie machte einige schnelle Schritte und spähte vom Flur in den Raum. Es war keiner da. Auch in der Toilette herrschte gähnende Leere. Sie gab Ratamo ein Zeichen hereinzukommen.
In dem Zimmer fand sich nichts, was auf Horvát hingedeutet hätte. Auf dem Bett lag ein geöffneter Koffer, und an der Garderobe hing ein dunkelbrauner Popelinemantel.
Ratamo schaute auf die Hinweise am Telefon, wählte die Nummer neun und sagte, er wolle Karen sprechen. »Wann hat Dieter Berger sein Zimmer verlassen?« fragte er in strengem Ton.
Die Frau erschrak. »Ich … ich weiß nicht.«
Ratamo wurde wütend: »Frag deine Kolleginnen!« DieFrau legte den Hörer hin, man hörte ein Rauschen und Murmeln. Es schien eine Ewigkeit zu dauern.
Endlich nahm sie den Hörer wieder in die Hand. »Seit heute vormittag hat niemand Berger gesehen. Er hat aber den Salon Lillebælt in der obersten Etage für den ganzen Tag reserviert. Vermutlich ist er dort.«
»Horvát hat eine Beratung. Jetzt wird es heiß.« Ratamos Stimme verriet die Spannung. Stangerup nickte mit ernster Miene und nahm erneut Kontakt zu dem Einsatzkommando von Aktionsstyrke auf. »Wir haben wahrscheinlich eine Täterfeststellung. Schickt ein Einsatzkommando ins Hotel Grand Marina.« Die beiden Polizisten schauten sich einen Augenblick an und lächelten gleichzeitig, aber nur kurz.
Die Auslegware dämpfte ihre Schritte, als sie rasch zu den Aufzügen gingen, kurz warteten und einstiegen. Sie standen nahe beieinander. Ratamo sah, daß Stangerup aufgeregt war. Wie würde sie sich in einer Krisensituation verhalten? Nur die junge Frau hatte eine Waffe, und möglicherweise gerieten sie in Gefahr.
Die Aufzugstür öffnete sich in der elften Etage, und die beiden wären um ein Haar gegen einen Mann, so groß wie ein Haus, gelaufen, der sie herausfordernd anstarrte. In einiger Entfernung stand auf dem Gang jemand, der anscheinend der eineiige Zwillingsbruder des Muskelberges war. Die Männer trugen die Uniform des »Grand Marina«, sahen aber eher aus wie Freistilringer.
Stangerup grüßte und bekam als Antwort ein Knurren.
Ratamo und Stangerup lasen das Namensschild des nächstgelegenen Verhandlungsraumes – Storebælt. Sie gingen weiter auf den Mann zu, der auf dem Gang stand, bis sie erkannten, daß er die Tür des Salons Lillebælt bewachte. Unter den wachsamen Blicken der Zwillinge machten die Ermittler auf den Fersen kehrt. Der Mann sagte etwas ins Knopfloch seiner Jacke, und der Wächter am Lift zog seineWaffe aus dem Halfter. Stangerup schob ihre Hand in den Mantel, hörte hinter sich ein metallisches Klicken und erstarrte. Jeder Polizist wußte genau, wie es klang, wenn eine Waffe entsichert wurde. Sie hatten Attila Horvát gefunden.
Der Mann auf dem Flur befahl den Eindringlingen, in den Salon Lillebælt zu gehen, und folgte ihnen mit vorgehaltener Waffe.
Keiner sagte ein Wort, als die beiden Männer die Polizisten einer Leibesvisitation unterzogen. Sie waren Profis: Stangerup und Ratamo wurden unsanft vom Kopf bis zu den Zehen abgetastet. Ratamo suchte mit seinem Blick den Salon ab. Er sah nur einen Teil des Raumes. Ein Mann bewachte mit einer Maschinenpistole ein Trio, das an der Wand aufgereiht saß. Der großgewachsene Attila Horvát trampelte nervös auf den Teppich, und Zoran Jugović wirkte blaß. Nur Akseli Saarnivaara saß in vorbildlicher Haltung da wie ein Offiziersschüler. Kein Wunder, daß man ihn nicht erkannt hatte: Der Mann war jetzt kahlköpfig, hatte dicke Augenbrauen und einen Schnurrbart.
Ratamo sah vier Sicherheitsleute. Und zwei bewachten den Flur. Sechs gut bewaffnete Profis – das war zuviel.
Einer der Männer, die sie abgetastet hatten, murmelte etwas zum Zeichen dafür, daß die Leibesvisitation beendet war. Ratamo wandte sich dem Beratungsraum zu, der so groß war wie eine Zweizimmerwohnung. Das Interieur zum Thema Meer wirkte teuer und nicht echt, aber die Aussicht auf die Bucht von
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