Finnisches Requiem
im Juniororchester neue Freunde und kam aus ihrem Schneckenhaus heraus. Sie war jetzt schon in der Lage, über den Tod ihrer Mutter vor zwei Jahren zu sprechen. Auch das Zusammenleben mit Riitta schien ihr gutzutun. Nelli hatte sich offensichtlich nach weiblicher Gesellschaft gesehnt, obgleich Ratamo versuchte, seine Aufgaben als alleinerziehender Vater, so gut er konnte, zu bewältigen. Überdies spielte Riitta Klavier und begleitete Nelli oft, wenn sie auf der Geige übte. Anders als im Jahr zuvor hatte es in diesem Herbst auch keine Probleme mit dem regelmäßigen Schulbesuch gegeben.
Ratamo entdeckte einen leeren Parkplatz mit Parkuhr in der Nähe der Synagoge und steuerte den Wagen geschickt rückwärts in das Feld. Riitta und Nelli waren vor Kälte so steif, daß sie nur mit Mühe aussteigen konnten. Alle hauchten in ihre Hände und drückten sie sich an die Wangen. Ratamo fluchte und machte sich Vorwürfe. Wenn Nelli krank wurde, dann waren er und der Volkswagen schuld.
Die drei rannten die hundert Meter bis zum Dienstleistungszentrum, die Glasschiebetüren des Foyers öffneten und schlossen sich mit einem Rauschen. Nelli umarmte ihren Vater und sauste die Treppe hinauf. Oben wurden schon die Instrumente gestimmt.
Riitta und Ratamo gaben ihre Mäntel an der Garderobe ab. In dem großen Foyer eilten Dutzende Menschen geschäftig hin und her. Das Café war überfüllt, und an den Billard-Tischen polterte es.
Der Festsaal war schon voll besetzt, es wurden noch zusätzlicheStühle hineingetragen. Neben den Eltern wartete eine große Anzahl Rentner auf den Beginn des Konzerts. Das Publikum war festlich gekleidet, Ratamo trug als einziger Jeans. Das Kleid Riittas, das ein bißchen indisch aussah, hatte vermutlich mehr Farben als alle anderen zusammen.
Ratamo bemerkte, daß Riitta immer noch sauer war. Im Laufe des ganzen Tages hatten sie keine Zeit gefunden, unter vier Augen miteinander zu sprechen. Wrede trieb die Mitglieder der Ermittlungsgruppe an wie ein Kapitän die Rudersklaven seiner Galeere. Er war auch dagegen gewesen, daß sie Nellis Konzert besuchten, Ratamo hatte seinen Vorgesetzten jedoch über die Pflichten bei der Kindererziehung aufgeklärt. Natürlich arbeiteten alle Mitglieder der Ermittlungsgruppe und die zu ihrer Unterstützung abgestellten SUPO-Beamten hart und mit Hochdruck an der Aufklärung des Mordes, man merkte einem jeden die Spannung und die Bedeutung der Ermittlungen an, aber einige private Dinge hatten auch in Krisenzeiten Vorrang.
»Hast du die Absicht, Timo heute abend anzurufen?« fragte Riitta.
»Das bringt nichts. Seija hat schon viele Monate lang versucht, Timo Vernunft zu predigen.«
»Du steckst wieder den Kopf in den Sand, sobald man eine unangenehme Sache zur Sprache bringen müßte. Genau wie bei deinem Vater«, erwiderte Riitta barsch und starrte mit ernster Miene auf die Bühne, wo die ersten Kinder schon ihre Plätze einnahmen.
Der Schlag traf ihn unter der Gürtellinie. Es war keinesfalls Ratamos Schuld, daß er und sein Vater nicht miteinander auskamen. Nach dem Tod der Mutter hatte sich der Vater zurückgezogen und die Menschen gemieden. Ratamo, der damals sieben Jahre alt war, hatte sich selbst erzogen. Oder eben nicht. Er hätte Riitta nicht von seiner Begegnung mit dem Vater im Februar und von ihrem katastrophalenAusgang erzählen dürfen. Riitta begriff nicht, daß der einzige angenehme Moment seiner Kindheit der Augenblick war, als sie zu Ende ging. Wenn er an den Vater dachte, bekam er automatisch schlechte Laune.
Wer hatte doch gleich gesagt, daß es beim Streit mit einer Frau nur eine Chance gab, das letzte Wort zu haben: Man mußte um Verzeihung bitten. Ratamo beschloß, den Streit nicht noch anzufachen, bis er womöglich lichterloh brannte. Am Abend würde Riittas Freundin Elina zu Besuch kommen. Die hyperenergische Fluglotsin war eine angenehme Gesellschaft, bei richtiger Dosierung. Ihr Wortschwall, der sich mit einer Geschwindigkeit von zweihundert Wörtern pro Minute über den Zuhörer ergoß, ermüdete jedoch über kurz oder lang jeden. Auch übermorgen war ein wichtiger Tag: Riitta hatte die Absicht, Ratamo ihren Eltern vorzustellen. Er wollte dort nicht mit einer schmollenden Frau auftauchen. Ein Stück Kautabak fand seinen Weg unter Ratamos Oberlippe, Riitta schnaufte empört.
Langsam reichte es ihm. Riitta mischte sich mit allzu großem Eifer in sein Privatleben ein. Er beschloß, trotzdem zu schweigen. Es gab nur zwei Arten, sich mit einer
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