Finnisches Requiem
juchzte Nelli, als das Segelschiff in den Meereswogen versank.
»Sic transit gloria mundi«,
assistierte Ratamo. Er genoß den Film genausosehr wie seine Tochter. Ihn amüsierte der Gedanke, daß die Menschen eigentlich nur oberflächlich erwachsen wurden: Die meisten verschlangen ihr ganzes Leben lang Märchen, im Fernsehen, im Kino und in Büchern. Nur die Form der Geschichten änderte sich mit zunehmendem Alter.
Ratamo hatte Nelli einen Videoabend vorgeschlagen, um das Zusammentreffen mit Riitta hinauszuschieben. Sie befanden sich wegen Himoaaltos nächtlichem Besuch vor zwei Tagen weiter im Kriegszustand, und er hatte immer noch nicht mit Timo gesprochen. Sein Blick blieb an der Büste von Lenin hängen und wanderte dann weiter zu Elvis. Wo könnte er eine Büste des Weihnachtsmannes finden? Sie würde seine Sammlung von Figuren ergänzen, die schon zu ihren Lebzeiten Legenden waren.
Er hatte Gewissensbisse. Eigentlich müßte er für die Prüfung in Organisations- und Wirtschaftskriminalität lernen, aber seine Gedanken kreisten immer wieder um die Morde an den Kommissaren. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so gespannt auf den nächsten Arbeitstag gewartet zu haben. Wären Ismo Varis und der »Global Block« imstande, zwei Kommissare zu ermorden? Er glaubte nicht an die Schuld des Finnen. Aber man konnte ja nie wissen. Auch in Finnland wurden heutzutage abartige Verbrechen begangen. Gelegentlich machten sich sogar junge Leute im Teenageralter brutaler, unsinniger Morde schuldig.
Kurz vor neun war der Film zu Ende. Ratamo schickte Nelli zum Zähneputzen, holte sich in der Küche ein paar Grillwürste und beeilte sich, in die Sauna zu kommen. Bald lagen die Würste im Foliebeutel auf den heißen Steinen, und Ratamo genoß den ersten Aufguß. Vor dem Saunaofen müßte ein neues Geländer angebracht werden, sonst könnte es passieren, daß Nelli auf die glühend heißen Steine fiel, wenn sie ausrutschte. Das alte Geländer war bei einem Saunaabend in der Hitze des Gefechts zu Bruch gegangen. Eine seiner frühesten Kindheitserinnerungen tauchte auf: Bei einem Ausflug ins Ferienhaus von Topi, einem Freund seines Vaters, war der dreieinhalbjährige Arto auf der Saunapritsche ausgerutscht, und Topi hatte ihn ein paar Zentimeter über dem Saunaofen aufgefangen. Warum erinnerte er sich nie anetwas Angenehmes, wenn es um seinen Vater ging? Gab es das nicht, oder war es unter den unangenehmen Erinnerungen begraben?
Nach der Sauna schmeckte die brutzelnde Wurst himmlisch, sie war genau richtig, schön wäßrig und locker. Er aß nie feste, fleischige Grillwürste. Wenn er Fleisch wollte, dann kaufte er sich ein Steak. Nach den drei Würsten schüttete er die Flasche Bier in zwei Zügen hinunter.
Ratamo sah durch den Türspalt, daß Nelli tief schlief. Bestimmt war Riitta bei ihr gewesen und hatte sie zugedeckt. Nach Sauna, Wurst und Bier fühlte er sich so entspannt, daß er beschloß, Riittas Stimmung zu erkunden. Er fand seine Lebensgefährtin in der Küche über den Bauerntisch gebeugt vor. Auf der fleckigen Holzoberfläche des Tisches lagen Seiten ihrer Arbeit ausgebreitet, und aus dem uralten Rundfunkempfänger ertönte Junnu Vainios Stimme: »Kopenhagen ist nicht mehr, wie es mal war …«
Die Perlen des Rosenkranzes klapperten leise, als Riitta sie durch Daumen und Zeigefinger laufen ließ. Sie hatte ausgewaschene Jeans an und ein weites T-Shirt, das den Kurven ihrer Brüste folgte und dann herabhing. Ihr dichtes nußbraunes Haar trug sie offen. Riitta benutzte kein Make-up und kein Parfüm. Ratamo bekam Lust.
Er stand in seinem ausgebleichten Bademantel an der Tür und schaute ihr zu. Riitta war so in ihre Arbeit vertieft, daß sie ihn nicht bemerkte. Genau so sah er sie am liebsten. Er überlegte, ob ihre Mutter wohl der gleiche Typ war? Ihre erste Begegnung am nächsten Tag beschäftigte ihn: Würde er mit der Schwiegermutterkandidatin zurechtkommen, würde er zwischen zwei Schwiegermüttern aufgerieben werden?
In den letzten Tagen hatte er von Riitta strenge Anweisungen erhalten, wie er seine Beziehungen zu seinem Vater und seinem Freund regeln sollte. Am Abend hatte Riittasogar vorgeschlagen, einige seiner mit viel Aufwand in Antiquitätenläden und auf Märkten erworbenen Einrichtungsgegenstände auszusortieren. Ratamo gab zu, daß sie kein einheitliches Ganzes bildeten und sich teilweise in einem ziemlich schlechten Zustand befanden. Mittlerweile hing er jedoch an seinen Fundstücken. Er mußte
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