Finster
sie mir einfach so begegnet. Ihr Weg hatte sich wie durch eine wunderbare Fügung der zeitlichen und örtlichen Begebenheiten mit meinem geschnitten.
Ich war ziemlich sicher, dass es nicht noch einmal geschehen würde.
Aber ich hatte vor, heute Nacht zur gleichen Zeit an derselben Stelle zu warten.
Während ich durch die Straßen schritt, hielt ich aufmerksam Ausschau nach Anzeichen von Ärger. Insbesondere wollte ich nicht von Hunden oder Hexen auf Fahrrädern überrascht werden.
Sie ist wahrscheinlich eine harmlose alte Dame, sagte ich mir. Vielleicht ist sie sogar nett, wenn man sie näher kennenlernt.
Ja, klar.
Von mir aus konnte sie Mutter Theresa sein: Ich wollte nicht, dass sie mich sah , und noch viel weniger, dass sie leise von hinten angefahren kam und mich zu Tode erschreckte, indem sie klingelte und an mir vorbeiraste … nah genug, um mich zu berühren.
Und wenn sie mich tatsächlich berührt?
Ich bekam schon eine Gänsehaut, wenn ich nur an sie dachte und nach ihr Ausschau hielt.
Wie Falstaff sagt: »Der bessere Teil der Tapferkeit ist Vorsicht, und mittels dieses besseren Teils habe ich mein Leben gerettet.« Der Fahrradhexe aus dem Weg zu gehen, würde zwar nicht mein Leben retten, aber doch einiges zu meinem Seelenfrieden beitragen. Daher ging ich einige Häuserblocks vor der Stelle, an der sie letzte Nacht aufgetaucht war, hinüber zur Franklin Street.
Dort gefiel es mir viel besser. Ich hatte nicht nur das Territorium der Hexe verlassen, sondern auch das des geheimnisvollen Mädchens betreten.
Ich hielt noch immer die Augen offen, doch nun nicht mehr nach Anzeichen von Gefahr. Stattdessen hoffte ich, das Mädchen zu erspähen.
Ich ging langsam und blickte mich nach allen Seiten um.
Schließlich erreichte ich die Seitenstraße, in der ich sie zuerst gesehen hatte. Ich blieb an der Ecke stehen und blickte hinein.
Sie kam nicht.
Niemand kam, weder zu Fuß noch mit dem Auto … noch auf dem Fahrrad.
Ich schien weit und breit der einzige Mensch auf den Beinen zu sein.
Es war zwar schon spät, aber ich kam mehr als rechtzeitig. Letzte Nacht hatte ich nicht so genau auf die Zeit geachtet, doch das Mädchen hatte sich zwischen 0:15 und 0:30 Uhr der Ecke genähert. Das nahm ich zumindest stark an.
Auf meiner Armbanduhr war es nun 0:05 Uhr.
Sie würde also frühestens in zehn Minuten auftauchen.
Zehn Minuten. Den meisten Leuten erscheinen zehn Minuten als eine sehr kurze Zeitspanne. Nicht lang genug, um viel erledigen zu können. Andererseits sind zehn Minuten reichlich Zeit für eine Dusche. In zehn oder weniger Minuten kann man ein Steak grillen. Und ein gesunder Mensch kann in zehn Minuten einen Kilometer weit gehen. Auf der Autobahn kann man in zehn Minuten locker zwanzig Kilometer zurücklegen.
Wenn man mitten in der Nacht allein an einer Straßenecke wartet, stellt man fest, dass zehn Minuten eine sehr lange Zeit sind.
Ich hielt nur fünf Minuten durch. In diesem Zeitraum fuhren sechs Autos vorbei. Ein behaarter Mann in Shorts und Sportschuhen, aber ohne T-Shirt, joggte mitten auf der Franklin Street, ohne mich zu beachten. Zweimal hörte ich in Häusern in der Nähe das Telefon klingeln. Eine Frau rief: »Untersteh dich!« Türen wurden zugeschlagen. Zwei Katzen rannten über die Straße. Und ein Opossum.
Dann kam auf dem Bürgersteig ein Mädchen in meine Richtung. Zwei deutsche Schäferhunde trotteten neben ihr her. Ich konnte nicht mit Sicherheit erkennen, ob sie angeleint waren und wollte es nicht auf die harte Tour herausfinden.
Ich verließ meinen Posten, bog rechts ab und ging ostwärts die Seitenstraße entlang.
Es war die Maple Avenue.
Letzte Nacht war das geheimnisvolle Mädchen aus dieser
Richtung gekommen. Mit etwas Glück würde ich so nicht nur eine Begegnung mit den Hunden vermeiden, sondern sie auch treffen.
Ich folgte ungefähr zehn Minuten lang der Maple Avenue. Von dem Mädchen sah ich keine Spur. Ich gelangte in ein schäbigeres Stadtviertel. Einstöckige mit Schindeln verkleidete Häuser, deren Gärten mit Maschendrahtzaun abgetrennt waren; hinter den Zäunen bellende Hunde, oft zwischen allen möglichen Schuttansammlungen. Die Leute in dieser Gegend schienen nichts wegzuwerfen. Wenn sie etwas nicht mehr gebrauchen konnten, stellten sie es in ihrem Vorgarten aus. Die meisten Gärten waren mit solchem Zeug verschandelt: alte Stühle, alte Sofakissen, alte Fernseher, Kloschüsseln, Reifen und oft auch ganze Autos.
Man kann nie wissen, welcher Art von
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