Finstere Propheziung
sie ihre Eltern hören. Nicht was sie sagten, aber das verzweifelte Schluchzen ihrer Mutter, das mit der tiefen, beunruhigten Stimme ihres Vaters zusammenprallte. Emily und David Barnes stritten sich selten, zumindest nicht in Gegenwart der Kinder. Und Cam - die gerade herausgefunden hatte, dass sie nicht ihr Kind war - wollte es nicht mit anhören müssen. Sie sprang vom Bett auf, ließ sich in den Drehstuhl an ihrem Schreibtisch fallen und griff nach ihren Kopfhörern. Mit einer raschen Bewegung verbarg sie ihre
Ohren darunter, drehte die Stereoanlage auf und stellte sie so laut, dass ihr beinahe das Trommelfell platzte. Die CD, die gerade in der Maschine war, tat ihr Bestes, konnte aber das wilde Chaos in ihrem Kopf nicht übertönen. Sie griff nach dem Telefon. Alex! Ich muss Alex anrufen! Was ... nein!! Ich meine natürlich Beth. Ich muss es ihr erzählen ... Vorsichtig nahm Cams Dad ihr den Kopfhörer ab. »Ja. Die Antwort auf deine Frage lautet: ja.« Ihre Mom stellte die Stereoanlage aus. Cam drehte ihnen demonstrativ den Rücken zu. Und so würde es auch bleiben.
Sie schenkte ihnen keine Beachtung und konzentrierte sich stattdessen auf ihre Pinnwand. Fotos ihrer Freundinnen lächelten ihr entgegen. Beth, Kris, Bree - gemeinsam mit Cam saßen sie in einer Eisdiele und schnitten Grimassen. Die Aufnahme von ihr mit Marleigh Cooper und Tonya auf dem Fußballfeld. Dylan, der auf seiner Gitarre spielte und erfolglos versuchte, lässig zu wirken. Scott Marino, in den sie in der Achten so verknallt gewesen war. Was hatte sie bloß jemals an ihm gefunden ?
»Bitte, Cami. Dreh dich um. Wir müssen miteinander reden.«
»Ich habe euch nichts zu sagen«, erwiderte Cam tonlos. »Bitte geht wieder. Ich habe zu tun.«
»Aber wir wollen dir etwas sagen.« Die Stimme ihres Vaters war sanft und leise. Cam verschränkte die Arme. Sie beschloss, sich ihm nicht zuzuwenden. Sonst würde sie ihren Dad ansehen müssen und die Beherrschung verlieren. »Es interessiert mich nicht. Euer Schweigen hat alles gesagt.«
Nun legte Dave seine Hand auf ihre Schulter und drückte sie leicht. »Cami, ich möchte, dass du dich umdrehst und uns ansiehst. Vielleicht hätten wir es dir früher sagen sollen ...«
»Früher? Vielleicht ?!« Blitzartig wirbelte Cam auf ihrem Stuhl herum. »Ihr habt mich angelogen! Mein ganzes Leben lang! Ich versteh das nicht!« Ihre Mutter brach in Tränen aus. »Es war ... Wir hatten nie vor, dich anzulügen.« Ein riesiger Kloß bildete sich in Cams Hals. Dennoch schaffte sie eine Erwiderung: »Habt ihr aber!«, sagte sie und ihre Stimme brach. »Irgendetwas nicht erzählen, nicht alles sagen, was man weiß ... nur, weil einen nie jemand danach gefragt hat, das ist ja wohl trotzdem Lügen.«
»Du bist doch unsere Kleine ...«, schluchzte Emily. »Ich weiß nicht einmal mehr, wer ihr seid.« Cams Lippen bebten. Und dann weinte auch sie.
Kapitel 16 - DAS AMULETT
Lucinda legte den Arm um Alex' Schulter. »Alles in Ordnung?« Alex wusste es nicht. Gerade noch hatte sie am Grab ihrer Mutter gestanden und sich mit dem merkwürdigen alten Arzt unterhalten, und nun saß sie auf einmal zwischen ihren beiden besten Freunden im Fahrerhaus von Evans Lieferwagen. Sie blickte an Lucinda vorbei auf den Friedhof. Der alte Kerl war verschwunden.
»Hast du dich noch allein von deiner Mom verabschiedet?«, erkundigte sich Evan taktvoll.
»Nein, ich habe mich mit... « Sie mussten ihn doch wohl gesehen haben, dachte sie und unterbrach sich selbst mitten im Satz. Die Begegnung war seltsam gewesen, der Typ irgendwie abgefahren, aber sie hatte sich das Gespräch nicht einfach nur eingebildet.
Alex sah auf ihre Hände. Irgendetwas hielt sie umklammert. Vorsichtig öffnete sie ihre Finger und sah das blassrosa Seidenkästchen, der Beweis dafür, dass der alte Mann wirklich existierte.
»Ich bin total kaputt« , erklärte sie Evan und Luce, während sie ihre Hände wieder um das Kästchen schloss. »Ich fühle mich... als hätte ich einen Sonnenstich oder so was.«
»Hey, was ist das denn?« Lucinda übersah niemals etwas. Sie hatte aus den Augenwinkeln entdeckt, was Alex in ihren Händen hielt.
»Ich weiß es nicht. Irgendwas von meiner Mom«, murmelte Alex.
»Was denn? Lass mal sehen«, drängte Luce. Vorsichtig öffnete Alex das verblichene rosa Seidenkästchen. Ausgebreitet auf rotem Satin, glitzernd im Sonnenlicht, das durch die Windschutzscheibe fiel, lag ein Schmuckstück, eine dünne goldene Kette, an dem ein
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