Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Finsteres Gold

Finsteres Gold

Titel: Finsteres Gold Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carrie Jones
Vom Netzwerk:
und versuchen, dich im Wald in die Irre zu führen. Hör nicht hin. Du kommst sonst nicht zurück. Überhaupt ist es besser, den Kontakt zu körperlosen Stimmen zu meiden.
     
    Ich besitze die emotionale Reife einer Zweijährigen. Das weiß ich wohl. Trotzdem versuche ich, vor meiner Großmutter und meinen Freunden davonzulaufen und dem Mitleid in ihren Augen zu entkommen, vor allem dem Mitleid in Nicks Augen … den Augen, in denen ich auf einmal nichts mehr lesen kann.
    Also renne ich, so schnell ich kann, durch den matschigen Schnee. Meine Füße tragen mich so weit in den Wald hinein, dass ich keine Autos mehr höre. Ich höre gar nichts. Kein Windhauch bläst durch die Wipfel der Fichten und Kiefern. Ihre schlanken blassbraunen Stämme knacken nicht unter dem Gewicht von Schnee und Eis. Kein einziger Vögel singt. Die Eichhörnchen keckem nicht, und sie schimpfen auch nicht, sie lassen keinen einzigen Laut ertönen, den Eichhörnchen normalerweise von sich geben.
    Nichts.
    Kein einziges Geräusch.
    Nichts.
    Das ist nicht normal. Ich atme witternd die Luft ein. Es riecht nur nach nassem Holz und alten Kiefernnadeln. Olfaktophobie ist die Angst vor Gerüchen. Geruchsängste können allerdings auch sehr spezifisch werden. Bromidrosiphobie zum Beispiel ist die Angst vor Körpergeruch. Zum Glück habe ich diese Angst nicht. Allerdings ist mir kein Name bekannt für die Angst vor fehlendem Geruch. Und es gibt meines Wissens auch keinen Namen für die Angst vor fehlenden Geräuschen. Die Angst vor Lärm heißt Akustikophobie.
    Warum gibt es keine Namen für die Angst vor Dingen, die nicht da sind? Warum gibt es keinen Namen für die Angst davor, kein Mensch mehr zu sein? Denn genau das ist jetzt meine Angst. Ich fürchte mich davor, kein Mensch mehr zu sein.
    Ich habe gesehen, was dann passiert. Jay Dahlberg wurde gequält und gebissen, sein Blut wurde getrunken, als ich ihn in einem Schlafzimmer im Obergeschoss des Elfenhauses fand. Jay kann sich an nichts mehr erinnern. Aber ich erinnere mich. Ich erinnere mich, wie er am ganzen Körper zitterte, als ich ihm die lange Marmortreppe hinunterhalf. Ich erinnere mich dran, wie der Geruch seiner Angst alles durchdrang.
    Elfen haben ihm das angetan.
    Es kann nicht sein, dass ich eine von ihnen bin.
    Es darf einfach nicht sein.
    Ich verbanne die Bilder aus meinem Kopf und bleibe eine halbe Stunde lang an einen Baum gelehnt stehen, um herauszufinden, warum ich weggelaufen bin. Aber eigentlich gibt es da nicht viel herauszufinden: Ich möchte mich nicht der Tatsache stellen, dass meine Haut blau wird.
    Meine Fußspuren zeigen den Weg zurück zum Parkplatz, zur Rettungsstation, zur Wirklichkeit. Beim Gehen starre ich auf die dunklen Fußabdrücke, die sich im Schnee abzeichnen. Dann passiert es: Über meine Haut krabbeln Spinnen, obwohl keine Spinnen da sind. Und noch etwas passiert: Ein Schmerz. Ich drücke eine Hand auf meinen Magen und krümme mich zusammen.
    »Sogar dein Stöhnen klingt entzückend«, sagt eine Stimme. Sie ist männlich, tief und heiser, aber auch melodisch, wie die eines Countrysängers. Ich erkenne sie. »Sollte mich eigentlich nicht überraschen.«
    Das Krabbeln wird stärker. Die Abdrücke im Schnee verschwimmen. Ich stütze mich gegen einen Baumstamm, damit ich nicht umfalle. Meine Kehle ist wie zugeschnürt, sodass meine Worte kaum den Weg nach draußen finden: »Oh, wow, du schon wieder?«
    »Du klingst, als hättest du Angst.«
    Bäume zingeln mich ein. Angetauter Schnee. Alles ist einförmig weiß und graubraun, graugrün. Kein Platz für eine Stimme. Ich lasse meine Stimme so fest wie möglich klingen und sage: »Ich hätte keine Angst, wenn ich dich sehen könnte.«
    »Welche Form ziehst du vor?«
    Welche Form? Ich brauche einen Augenblick. Elf oder Mensch – das meint er. Ich schwanke gegen den Baum. Meine Hand rutscht an dem rauen Stamm ab. »Mensch.«
    »Wie gewünscht, Mensch.« Hände greifen nach mir und halten mich fest. Ich zucke zurück, aber sie sind erstaunlich sanft. Er lächelt nicht, als ich mich umdrehe und sein Gesicht betrachte. Er steht einfach da und lässt sich begutachten. Er ist groß, hat eine hohe Stirn mit tief liegenden grünen Augen und kurz geschnittene blonde Haare. Seine vollen Lippen wirken kräftig, wie der Rest von ihm. Die Knöchel an seinen Händen sind riesig, als ob er Boxer wäre oder Arthritis hätte oder dauernd gegen Wände schlagen würde. Er sieht aus, wie er aussah, als er mich aus dem Wagen gezogen

Weitere Kostenlose Bücher