Finsteres Verlangen
Mortes Augen wurden eine Winzigkeit größer. »Das wagst du nicht.«
»Und ob«, sagte ich lächelnd, sah sie aber nicht an, denn ich konzentrierte mich auf Musettes Brust und das blutbesudelte weiße Kleid, das unter Belles geisterhafter Gestalt durchschien. Je mehr ich mich konzentrierte, desto mehr sah ich von Musette. Es war wie ein Doppelbild: Musette sah ich mit den Augen und Belle in meinem Kopf, sodass ich mich fragte, wie viel die anderen von Belle wahrnahmen und ob ich wegen meiner nekromantischen Kräfte die bessere Show bekam. Ich würde später jemanden fragen. Viel später.
»Jean-Claude, das darfst du nicht zulassen.«
»Ma petite handelt mitunter überstürzt, aber gerade hat sie mich daran erinnert, dass die Regeln sich geändert haben. Als Sourdre de sang habe ich das Recht, einen deiner Leute zu bestrafen, weil er meinem Stellvertreter körperlichen Schaden zugefügt hat. Das ist absolut rechtens.«
»Ich wusste nicht, dass Asher Stellvertreter eines Sourdre de sang ist.«
Mein Arm war noch ruhig, aber nicht mehr lange. Man kann eine Pistole nicht ewig mit ausgestrecktem Arm halten. »Du weißt es jetzt«, warf ich ein, »und er ist noch nicht tot. Du tötest ihn also mit Vorsatz.«
»Wir sind im Recht, wenn wir Musette mit dem Leben bezahlen lassen«, sagte Jean-Claude. »Du solltest vorsichtiger sein, Belle. Wenn du Leute, die dir am Herzen liegen, in ferne Länder schickst, ist es mitunter schwer, sie zu schützen.«
Ich rang darum, nicht zu zittern, aber lange würde das nicht mehr gut gehen. »Ich mache es dir ganz einfach, Belle: Hilf Asher sofort, oder ich töte Musette.«
Was vor meinen Augen und in meinem Kopf identisch war, waren diese honigbraunen Augen. Die blickten mich an, und ich fühlte ihre Zugkraft. Sie wollten mich bewegen, die Waffe zu senken, und mein Arm schmerzte schon. Warum tat ich es nicht? Mein Arm begann zu sinken, und ich riss mich gerade zusammen, als Jean-Claude mich an der Schulter berührte.
Ich konnte den Arm wieder stillhalten. Das kurze Senken und Heben hatte geholfen. Jetzt würde ich noch eine ganze Weile auf Musette zielen können.
»Wenn du mit Musettes Leben spielen willst, ist das deine Sache«, sagte Jean-Claude mit der Stimme, die mir wohlige Schauder überjagte und meinen Finger am Abzug zucken ließ. Ein weniger geübter Schütze hätte vermutlich abgedrückt. Aber ich sagte ihm nicht, er solle damit aufhören, denn Belle hatte mir den Verstand benebelt. Es war lange her, seit das einem Vampir bei mir so beiläufig gelungen war.
Jean-Claudes erotische Anziehungskraft wirkte meiner Angst entgegen. Belle war noch nicht besiegt, nicht einmal annähernd. Arroganz wäre hier tödlich. Also lieber den Tatsachen ins Auge blicken. »Eines musst du dich aber selbst fragen, Belle«, sagte ich sehr ruhig, weil ich mich aufs Atmen konzentrierte und ruhig sein musste, wenn ich abdrückte. »Ist deine Zuneigung zu Musette stärker als dein Hass auf Asher?«
»Untergebene hasst man nicht, man straft sie bloß, Anita.« Sie klang unglaublich selbstsicher.
Jean-Claude erwiderte nur eins: »Lügnerin.«
Sie richtete ihren honigbraunen Blick auf ihn, und darin war nicht mehr die geringste Zuneigung, nur noch Hass. Sie hasste sie beide, Jean-Claude und Asher. Sie waren die einzigen Männer, die ihr Bett, wie sie es sah, aus freien Stücken verlassen hatten. Niemand verlässt Belle Morte, weil niemand es will. Belles Selbstwertgefühl hatte Schaden erlitten. Aber das sagte ich nicht, denn es würde uns nichts nützen, wenn ich ihren Stolz verletzte. Um den zu retten, würde sie Asher und Musette sterben lassen. Da war ich mir ziemlich sicher. Ich verkniff mir, was mir auf der Zunge lag, und rang um ein ausdrucksloses Gesicht. Aber ich hatte vergessen, dass ich ihr erstes Zeichen trug. Es war völlig überflüssig, ein neutrales Gesicht zu wahren.
Und so hörte ich ihre Stimme in meinem Kopf wie im Traum, und der Duft von Rosen wehte herüber. »Mein Stolz ist nicht so leicht zu erschüttern, Anita.«
Ein Kuss Jean-Claudes auf meine Wange verscheuchte den Rosenduft und die gurrende Stimme. »Ma petite, ma petite, geht es dir gut?«
Ich nickte. »Beweise es«, sagte ich, »belebe Asher.«
Jean-Claude fragte nicht, mit wem ich redete. Er konnte es sich denken oder verzichtete auf die Frage, weil uns die Zeit davonlief.
»Du wirst ihn noch totreden«, bemerkte Valentina.
Alle außer mir drehten den Kopf nach ihr. Ich zielte weiterhin angestrengt auf
Weitere Kostenlose Bücher