Finsternis über Gan (German Edition)
aber auch ihr Menschen solltet das Böse niemals unterschätzen. Möge der Schöpfer der Lebensströme uns beistehen.«
Nach diesem mahnenden Wort hielt Joe lieber den Mund. Ganz überzeugt hatte ihn das Einhorn nicht. Ihre Abenteuer im letzten Jahr schienen ihm viel gefährlicher in Erinnerung. Aber er wollte nicht unhöflich sein. Gemächlich ritten sie dem Einhorn hinterher. Sie freuten sich über die wunderschöne Natur Gans und entdeckten immerzu neue Dinge, auf die sie einander aufmerksam machten. Ob die Bäume, die viel imposanter als bei ihnen zu Hause aussahen, die Früchte in den Sträuchern oder auch die verschiedenen Tiere. Manche davon hatten sie noch nie zuvor gesehen.
»Mein Biolehrer würde hier wahrscheinlich ausrasten vor Begeisterung«, sagte Finn lachend.
Und so erzählten sie munter drauflos und genossen die Reise.
Das Einhorn beteiligte sich nicht am Gespräch. Aufmerksam schaute es nach links und rechts und prüfte mit bebenden Nüstern die Luft. »So unbeschwert können nur Fohlen in ein gefährliches Abenteuer ziehen«, dachte es bei sich und schüttelte seine silberne Mähne. Der Gedanke, zur Hütte des Bösen zu gehen, bereitete ihm großes Unbehagen. Von klein auf hatte es gelernt, nicht einmal in ihre Nähe zu gehen. Immer wieder hatten seine Eltern ihm erzählt, wie gefährlich diese Hütte besonders für Einhörner, den wohl reinsten Tieren des Zauberwaldes, sei. Um sich selbst zu beruhigen, summte es leise eine alte Melodie vor sich hin.
»Was ist das für ein Lied?«, fragte Pendo interessiert, die eine Weile den tiefen Klängen gelauscht hatte.
Nathanus schreckte bei der Frage ein wenig zusammen. Er war sich nicht darüber im Klaren gewesen, dass die Gefährten sein Summen gehört hatten: »Oh, das ist ein Lied aus uralter Zeit. Meine Mutter hat mir erzählt, dass ihr dieses Lied Trost und Kraft gäbe, wenn sie ängstlich oder traurig ist.«
»Kannst du es uns beibringen?«, fragte nun Chika.
»Warum nicht? Hört zu!«
Das Einhorn sang mit einer wohlklingenden, tiefen Stimme. Die Gefährten wurden sofort in den Bann der Worte und die Schönheit der Tonfolge gezogen:
»Du Licht des Schöpfers, zeig deine Macht.
Durchbrich die Ketten der finsteren Nacht.
Erfülle uns mit deinem Licht, send Äbrahs Kraft, die Rettung bringt.«
Mehrmals hintereinander sangen sie leise das Lied, bis Pendo, Chika, Finn und Joe es beherrschten. Als Nathanus die Melodie mit einer tiefen Bassstimme unterlegte, lief den Gefährten der Schauer hoch und runter. Die Schönheit des Gesangs ließ alles um sie herum leicht und schön werden. Nach einer Weile wurde das Singen immer leiser, bis schließlich alle verstummten und nur noch das Schlagen der Pferdehufe zu hören war.
»Es ist wunderschön«, wisperte Pendo ehrfürchtig.
»Ich kann eigentlich gar nicht singen«, verwunderte sich Joe, »aber dieses Lied ging seltsamerweise richtig gut.«
Das Einhorn wieherte und schüttelte seine Mähne. »Das ist ein Teil seiner geheimnisvollen Kraft. Ich finde es auch schön. In früheren Zeiten wurde die alte Weise oft gesungen. Jeder kannte sie. Aber sie ist in Vergessenheit geraten.«
Schweigend ritten sie den Weg entlang. Durchbrich die Ketten der finsteren Nacht. Das wünschten sie sich alle, nachdem sie von den Schwarzalben in Schloss Apelah wussten.
Nach drei Stunden hoch zu Ross begann Chika zu stöhnen: »Mein Hintern tut so weh. Ich brauch …«
Weiter kam sie nicht. Ungewohnt energisch zischte Nathanus: »Vergiss deinen Hintern. Schnell, hinter mir her. Wir müssen uns in den Büschen verstecken.«
Die vier begriffen sofort. Eilig ritten sie Nathanus hinterher. Beim nächstgelegenen Dickicht stiegen sie von ihren Pferden, zogen ihre Kapuzen über, woraufhin ihre Kleidung die Farbe des Waldes annahm, und stellten sich vor Nathanus, dessen silbernes Fell von ferne zu erkennen war. Die Pferde der Jungen und Mädchen spürten sofort die Anspannung und begannen mit den Hufen zu scharren. Nathanus wieherte ihnen leise etwas zu, woraufhin sie reglos stehen blieben und verstummten. Erstaunt drehten sich die vier um und schauten das Einhorn an. Dass es mit den Pferden reden konnte, war ihnen neu. Nathanus aber schwieg und brachte mit seinem Blick die Gefährten ebenfalls zur Ruhe.
Nach nur wenigen Minuten hörten sie von Ferne ein Geräusch näher kommen. Es war Hufgetrappel, das stetig lauter wurde. Chika zog ängstlich ihren Umhang eng um sich. Wer mochte das sein? Schwarzalben ritten gewöhnlich
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