Firelight 2 - Flammende Träne (German Edition)
der Welt, in der man lebt, abgeschnitten zu sein. Sich unter seinesgleichen fremd zu fühlen. Will hat das verstanden. Er hat mich verstanden.
6
N idias Stimme kündigt mich an. »Wie schön, dass du uns besuchen kommst, Jacinda. Möchtest du eine heiße Schokolade?«
Ich nicke und sitze wenig später mit einer Tasse in der Hand in einem Sessel. Auf Tamras Gesicht liegt noch immer ein Lächeln, doch es wirkt spröde, als sie sich zu mir umdreht und darauf wartet, dass ich etwas sage. In diesen fremden Augen liegt dasselbe Misstrauen, das auch ich verspüre. Wir wissen nicht, was wir zueinander sagen oder wie wir uns verhalten sollen. Wir kennen einander nicht mehr. Ich kann nur Vermutungen darüber anstellen, wie sie es findet, dass sie sich plötzlich verwandelt hat. Im Grunde habe ich nicht die leiseste Ahnung.
»Schön, dich zu sehen«, sage ich schließlich und füge dann noch hinzu: »Du siehst gut aus.« Auch wenn es eine Lüge ist.
»Ich fühle mich schon besser«, sagt Tamra freundlich, aber distanziert. Ich will diese Distanz überwinden. Mich neben sie setzen und sie daran erinnern, was wir füreinander sind. »Nidia kümmert sich ganz hervorragend um mich.«
»Wir wussten, dass sie das tun würde«, fühlt sich Cassian bemüßigt zu sagen und ich habe große Lust, ihm eine runterzuhauen. Wir?
Ich schlucke die bissige Antwort hinunter, dass auch wir uns gut um sie gekümmert hätten. Mum und ich. Wir haben immer aufeinander aufgepasst … aber jetzt will das Rudel nicht, dass wir das tun. Ich bin nicht sicher, wen von uns beiden sie als den schlechteren Umgang für Tamra einstufen: mich oder Mum. Ich starre die mondblasse Version meiner Schwester an und frage mich, ob sie überhaupt bei uns sein will. Vermisst sie uns? Oder will sie sowieso lieber hierbleiben?
»Du siehst auch gut aus, Jacinda«, fügt Tamra hinzu und ich weiß, dass sie lügt. Sie war noch nie besonders begeistert von meinem T-Shirt-und-Jeans-Look. Und auch der Rest von mir lässt eher zu wünschen übrig. Ich habe mich heute Morgen vor dem Spiegel unter die Lupe genommen, während ich mir die Zähne geputzt habe. Die Ringe unter meinen Augen sehen aus wie blaue Flecken und sogar meine Lippen wirken blass und farblos. Irgendwie seltsam, dass ich ausgerechnet hier so schlecht wie noch nie aussehe, in den kühlen Bergen, die mir immer so viel Energie gegeben haben. Die Nebel und Berge, von denen ich dachte, dass ich sie brauche, um meinen inneren Draki am Leben zu erhalten.
»Danke«, sage ich.
»Morgen beginne ich mit dem Training.« Tamra richtet sich im Sitzen noch etwas weiter auf. »Mit Nidia und Keane.«
Ich nicke. Keane ist der Fluglehrer des Rudels. Kein Draki hebt vom Boden ab, bevor er nicht Keanes Flugschule durchlaufen hat.
»Ich wette, du freust dich schon total darauf.« Ich lächle und freue mich ehrlich darüber, dass sie endlich erleben wird, wie es ist zu fliegen. Sie wird den Wind und den Himmel und die Wolken genießen. Ich weiß, wie wunderschön das ist, und endlich wird sie das auch wissen. Endlich werden wir auch das gemeinsam haben. Sie wird verstehen, wovon ich die ganze Zeit über gesprochen habe – sie wird mein Bedürfnis verstehen, dass ich meinen inneren Draki nicht verkümmern lassen kann. Es ist schon eine merkwürdige Situation. Ich kann es kaum selbst begreifen, während ich die Fremde anstarre, zu der meine Schwester geworden ist. Tamra fliegend am Himmel. Tamra, die endlich versteht, warum ich nicht aufgeben kann. Warum ich nicht zulassen kann, dass der Draki in mir stirbt.
Dann erhebt Nidia die Stimme und ihre Worte sind wie eine kalte Windböe. »Ich wusste, dass ihr beide zu etwas Großem bestimmt seid. Ihr wart ganz besondere Kinder … und Zwillinge sind bei uns eine große Seltenheit.«
Mein Blick driftet zu ihr, als sie sich auf der Fensterbank niederlässt und das Strickzeug, das sie zur Seite gelegt hatte, wieder aufnimmt. Die Nadeln klappern und sie lächelt und schüttelt den Kopf dabei, ganz offensichtlich zufrieden mit sich selbst. »Eine Feuerspeierin und eine Wächterin.« Lichtstrahlen, in denen Staubkörnchen tanzen, fallen durch das Fenster herein und treffen auf ihren Rücken. Ihr silbernes Haar glitzert so, als ob Diamanten in der dichten Mähne verborgen wären.
»Ich kann es immer noch nicht glauben«, staunt Tamra und wirkt ein bisschen benommen.
»Glaub es ruhig«, sagt Cassian und drückt ihre Schulter.
Ich starre auf seine große Hand und die plumpen Finger auf
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