Firelight 2 - Flammende Träne (German Edition)
überlebt, meinen inneren Draki zu töten. Ich habe die Wüste überlebt, in der überall hungrige Jäger lauerten. Die Angst war dort so greifbar, dass ich sie förmlich schmecken konnte. Danach wusste ich, dass mein innerer Draki alles überleben wird. Ich muss mir keine Sorgen mehr machen, diesen Teil von mir jemals zu verlieren. Darüber sollte ich froh sein. Erleichtert. Aber das bin ich nicht. Ich spüre ein stechendes Brennen in den Augen und blinzle hastig dagegen an.
Ich atme tief ein und gehe weiter. Meine Brust hebt sich und saugt den Geruch süßer, fruchtbarer Erde ein. Hier bin ich versorgt. Auch wenn meine Seele nach mehr verlangt. Nach Will.
Wut steigt in mir hoch. Ich bin verrückt, wenn ich mich nach einem Jungen sehne, den ich für immer verloren habe. Warum kann ich ihn nicht einfach hinter mir lassen und versuchen, im Rudel so glücklich wie möglich zu werden?
Auf einmal bemerke ich den Umriss, der sich gegen den dunstigen Abendhimmel abzeichnet. Der baufällige Turm ragt durch den Nebel empor wie ein alter, weit verzweigter Baum, der über und über mit dicken, drahtigen Weinreben bedeckt ist. Er ist nicht so hoch wie die anderen drei Wachtürme, die an strategischen Positionen in der Siedlung stehen. Aber er ist der älteste, der erste, der zu einer Zeit gebaut wurde, als es noch unvorstellbar war, ohne Wächter zu leben – eine Wirklichkeit, auf die wir uns nicht vorbereiten mussten.
Diese Einstellung hat sich mit der Zeit geändert. Als Nidia älter wurde und sich keiner von uns in einen Wächter verwandelte, bekamen alle Angst, dass die nächste Drakigeneration ohne Wächter würde überleben müssen. Daraufhin wurden die anderen drei Türme gebaut, massiver und höher als der erste, eine Vorbereitung auf die Zeit, in der wir möglicherweise gezwungen waren, die Siedlung selbst zu beschützen.
Am Fundament des Turms bleibe ich stehen und blicke nach oben. Wachtürme werden immer mit Weinreben und Gestrüpp verkleidet, damit sie sich besser in die natürliche Landschaft einfügen und weniger auffallen. Dieser hier wirkt aber noch viel ursprünglicher als die anderen, und das gefällt mir. Er wird nach und nach wieder ein Teil der Natur und ich mag, wie wild er aussieht. Er wird seit Jahren nicht mehr benutzt, länger schon, als ich lebe, aber ich kenne diesen vergessenen Turm bereits seit meiner frühesten Kindheit.
Ich lege die Hand auf eine verwitterte Sprosse und beginne hochzuklettern. Ein Tier wird durch mein Eindringen aufgeschreckt und huscht die morschen Balken hinauf, während ich weiter emporsteige.
Ich bahne mir einen Weg durch das Blätterdickicht. Drahtige Äste piksen mich und verfangen sich wie Finger in meinen Haaren. Morsche Bretter knarzen unter mir. Nachdem ich oben angekommen bin, lasse ich mich seufzend rücklings auf das moosbewachsene Holz fallen.
Ich lege mir eine gespreizte Hand auf den Bauch und spüre, wie ich ein- und ausatme und meine Lunge sich dabei weitet. Und plötzlich fällt mir alles wieder ein. Wie sehr ich diesen Ort liebe. Einen Ort, an dem ich sicher und geschützt leben kann. Wo ich wirklich ich selbst sein kann, fernab von neugierigen Blicken.
Über mir befindet sich ein grünes Blätterdach. Durch Lücken im Blattwerk kann ich die Wolken am Himmel vorüberziehen sehen. Ich setze mich auf, schlage die Beine übereinander und betrachte die weite, pulsierende grüne Welt unter mir. Dort ist das Rudel. Die Dächer mit den grünen Ziegeln lugen unter Nidias Nebel hervor.
Einzelne Schwaden ringeln sich zwischen den Häusern und Gebäuden hindurch, legen sich über die Felder und kriechen über die Mauern der Siedlung. Sie breiten sich über das Land hinweg aus wie Lebewesen und lassen sich in einem dichten, schaumartigen Weiß in den Tälern und auf den niedrigeren Hügeln und Bergen nieder. Nur die höchsten Baumwipfel spitzen aus der Nebeldecke heraus.
»Ich habe mir gedacht, dass ich dich hier finden würde.«
Ich ziehe die Knie fest an die Brust, als Cassians dunkler Kopf zum Vorschein kommt, gefolgt vom Rest seines Körpers. Unter dem protestierenden Knarzen des Holzes setzt er sich neben mich.
»Der Turm hier ist wahrscheinlich eine Todesfalle, weißt du das? Er hätte schon vor langer Zeit eingerissen werden sollen.«
»Das wäre ein Verbrechen. An diesem Turm hängen viel zu viele Erinnerungen«, sage ich. »Das bringt keiner fertig.«
Er streicht über eines der moosbewachsenen Bretter unter ihm. »Ja, das stimmt. Ich frage mich,
Weitere Kostenlose Bücher