First Night - Der Vertrag (German Edition)
anmerken zu lassen, wie groß ihre Angst war. Sie musste die Naive spielen und so tun, als hätte sie keine Ahnung, wer Morosow war und was er ihrer Schwester angetan hatte. Das war essentiell für das Gelingen dieser Charade. Der Mann war schon von seiner Statur und von seinem finsteren Blick her furchteinflößend genug, und das Wissen, dass er ein skrupelloser Verbrecher war, machte den Umgang mit ihm nicht gerade einfacher. Wenn Silvio wüsste, was für eine schlechte Schauspielerin sie war, hätte er sich womöglich doch eine andere Variante überlegt, um an Morosow heranzukommen.
„Sie haben mich angelogen, Süße!“, sagte Morosow schon zur Begrüßung, bevor er überhaupt das Wohnzimmer betreten hatte .
Seine beiden Riesen gingen zur Begrüßung auch nicht gerade sehr zartfü hlend mit ihr um. Der eine hielt sie von hinten fest und der andere tastete sie von oben bis unten ab, als hätte sie irgendwo unter ihrem Rock ein Maschinengewehr versteckt. Ha, ha, wie witzig.
Als die Herren keine Waffen bei ihr finden konnten , oder was auch immer sie sonst gesucht hatten, sagten sie irgendetwas auf Russisch zu Morosow und alle drei brachen in dreckiges Gelächter aus. Man brauchte nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, in welche Richtung die Kommentare gingen.
„Was soll das?“
Julia tat empört, schließlich musste sie die Arglose bis zum Ende spielen. Aber eigentlich brauchte sie die Empörung nicht vorzuspielen. Es war unangenehm, sich von diesen Kerlen angrabschen lassen zu müssen und dieses Abtasten war zudem albern. Als ob sie mit ihren gerade mal einssechzig irgendeine Bedrohung für diese drei bis unter die Zähne bewaffneten Türme darstellen würde.
Apropos Bedrohung, Morosow baute sich riesig und bedrohlich vor ihr auf und starrte mit unfreundlicher Miene auf sie herab. Sie fragte sich in dem Moment, was Marie an diesem Mann wohl gefunden hatte. Hatte sie keine Angst vor ihm gehabt, als sie sich an ihn heranmachen musste? Sie hatte über all seine Verbrechen Bescheid gewusst, Mord, Drogenhandel und Zuhälterei und was sonst noch alles und dennoch hatte sie sich in ihn verliebt.
Hatte das vielleicht etwas mit dem Sex zu tun gehabt?
Inzwischen wusste sie ziemlich genau, dass Sex süchtig machen konnte. Sie dachte seit Tagen kaum noch an etwas anderes als daran, wie Thomas sich in ihr anfühlte, wie er stöhnte in dem Moment, in dem er sich heiß in sie ergoss, wie sein Gesicht aussah, wenn er kam, was er mit seinen Händen anstellte und mit seiner Zunge.
Hatte Marie sich auch so sehr nach Sex mit dem Mann gesehnt , den sie liebte? So sehr, dass der gesunde Menschenverstand einfach ausgesetzt hatte und sie es sogar in einem Auto oder auf einem Waschtisch getrieben hatte?
„Das ist die übliche Vorsichtsmaßnahme, Süße“, kam die Antwort mit tonnenschwerem russischem Akzent vom Ex-Lover ihrer Schwester. „Sie haben mich belogen, das mag ich nicht. Sie sagten, Sie sind nicht die Frau von Mahler. Ich habe Sie aber vorhin im Fernsehen gesehen, als er Sie der ganzen Welt als seine Verlobte vorgestellt hat.“
„Es hat mich selbst überrascht!“ , antwortete sie ehrlich. „Aber unser Treffen hier hat nichts mit Thomas Mahler zu tun.“
Sie wünsc hte sich, sie könnte es selbst glauben. Das hatte alles mit Thomas Mahler zu tun. Fast alles.
„Es geht hier nur um Benni und um Sie. Kommen Sie ins Wohnzimmer und setzen Sie sich.“
Sie drehte ihm den Rücken zu und zeigte auf das Wohnzimmer. Ihren Vater hatte sie mit Hilfe von Iadwiga zu Bett gebracht. Er war nicht wirklich gut drauf gewesen und war auch nicht annähernd so glücklich über die Pflegerin, die ab nächster Woche in Maries Zimmer einziehen würde, wie Julia sich das erhofft hatte.
Ihr Vater wollte nicht rund um die Uhr betreut werden. Er sei „nur“ MS-krank, kein Alzheimer-Patient und er könne sein Leben noch weitgehend alleine meistern, behauptete er. Und er machte sich außerdem riesige Sorgen, wo Julia das viele Geld für Iadwigas Gehalt hernehmen wollte. Über diese ganze Aufregung war er völlig erschöpft auf dem Sofa eingeschlafen und Iadwiga hatte ihre Befähigung als Pflegerin gleich unter Beweis stellen können.
Julia war jedenfalls froh, dass ihr Vater schlief und nichts von den obskuren Gästen mitbekam, denn ganz bestimmt würde der Besuch von Morosow ihn noch mehr aufregen. Sie bot den Männern etwas zu trinken an und nachdem sich Morosow an den Esstisch gesetzt hatte, positionierten sich seine beiden
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