Fische füttern - Genovesi, F: Fische füttern - Esche Vive
übertragen hat.
Heute in aller Herrgottsfrühe war er mit den Wächtern schon auf Patrouille gewesen, und am Ende hat er sie gebeten, ihn hierher zu fahren. Der Anblick des Erhängten im Gegenlicht am Ende des Schotterwegs ließ ihnen für einen Moment das Blut in den Adern gefrieren.
Als sie merkten, dass es nur eine Puppe war, bekamen sie es erst recht mit der Angst. Die Puppe eines weißhaarigen Alten, der vor dem Friedhof über einer Tafel mit roter Schrift baumelte:
HEUTE IST DIE NACHT DER NÄCHTE
UND DER FRIEDHOF WIRD EUER ZUHAUSE SEIN.
FRONT FÜR DIE NATIONALE VERJÜNGUNG
METAL D.
»SCHEISS-NAZIS«, meinte Mazinga und berührte die Puppe mit seinem Stock. »DER-HAT-AUCH-EINE-GÜRTELTASCHE-GENAU-WIE-WIR.«
»Leute, ich hab das alles doch nur erfunden«, sagte Repetti. »Ich schwöre es bei allen Heiligen im Himmel.«
»JA-ABER-NUN-GIBT-ES-SIE-WIRKLICH.«
»Ja, es gibt sie«, sagte Baldato, »aber nicht mehr lange. Denn heute Nacht kriegen wir sie.«
»…«
»Also, Jungs, es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder wir kommen ihnen zuvor, oder wir lassen uns von diesen Mistkerlen unterkriegen. Die Botschaft ist klar. Heute Nacht. Hier. Und deshalb kommen wir heute nach dem Abendessen hierher und legen ihnen einen schönen Hinterhalt, einverstanden?«
Divo musste kurz überlegen. Gestern waren sie mit einem Journalisten verabredet, der für einen Bericht über die Wächter Fotos brauchte. Und Divo hat den Abend damit zugebracht, eines zu finden, auf dem er gut aussah. Doch dann rief der Journalist wieder an, er müsse sich um andere Nachrichten kümmern, und die Sache würde auf unbestimmte Zeit verschoben. Eine Krankenschwester aus Verona war von ihrem eigenen Sohn schwanger geworden, und ein in Biella ausgesetzter Hund hatte es bis San Giovanni Rotondo in Apulien geschafft und schlief jetzt neben dem Padre-Pio-Museum. Jeden Tag geschehen neue aufsehenerregende Dinge, da müssen die Wächter zwangsläufig in den Hintergrund treten. Es sei denn, sie lassen sich etwas Neues einfallen. Etwas Großes.
»Ich bin dabei.« Divo hat Baldato die Hand gedrückt, und Mazinga hat zustimmend genickt. Repetti hätte am liebsten Nein gesagt, aber jetzt konnte er keinen Rückzieher mehr machen.
Den ganzen Tag haben sie überlegt, wo sie sich am besten verstecken sollten, und nun sind sie hier im Dunkeln hinter der Weide und beobachten den Friedhof.
Denn jetzt ist es Nacht. Genauer: die Nacht der Nächte.
Heiliges Kanonenrohr.
»Und wenn es viele sind?«, fragt Repetti.
»Wenn es viele sind, bleiben wir im Versteck, klar. Wir fotografieren sie und bringen die Fotos zur Polizei.« Divo hebt die Kamera hoch, ein altes Ding mit Rollfilm. »Wenn es viele sind, Fotos. Und wenn es wenige sind, Stockschläge.«
Alle nicken, aber Repetti zittert vor allem. Er zittert und schwitzt gleichzeitig. Auf diesem Friedhof hat er vierzig Jahre seines Lebens zugebracht, eine längere Zeit als viele Tote, die hier begraben liegen. Er hat millionenmal hier gegessen und ferngesehen und ist aufs Klo gegangen. Aber nachts ist es auf einem Friedhof ganz anders. Er weiß das, und deshalb ist er unruhig.
Die anderen dagegen sprechen fleißig dem Wein zu und quasseln drauflos, als wären sie in einer Bar.
»REICH-MIR-MAL-DEN-SCHAFSKÄSE«, sagt Mazinga, der sofort zum Schweigen gebracht wird, weil sein metallisches Krächzen viel zu laut ist. Es hallt in der stockfinsteren Ebene wider und lehrt einen das Gruseln.
Kaum ist es wieder still, hören sie aus der Ferne das Geräusch im Kies knirschender Schritte. Langsame, gleichmäßige Schritte, die immer näher kommen.
»Himmel, wer ist das?«
»Was glaubst du wohl? Dreimal darfst du raten …«
Repetti verzichtet aufs Raten und sagt keinen Ton.
Divo und Baldato starren in die Dunkelheit und tasten schon mal nach ihren Stöcken, Mazingas Atem pfeift wie eine Luftpumpe, wenn man einen Ball aufbläst, der ein Loch hat. Sie lauschen reglos dem Scharren der Schritte, die immer deutlicher zu hören sind und dabei immer langsamer werden. Es sind die schlurfenden Schritte eines Menschen, der keine Eile hat. Vielleicht weil er unendlich viel Zeit hat, vielleicht aber auch, weil er weiß, dass nichts ihn aufhalten kann.
»Was jetzt, ist das nur einer allein? Diese berühmte Front ist ein einzelner Schwachkopf?«
»Vielleicht der Anführer, wer weiß?« Divo ist bemüht, mit fester Stimme zu sprechen, was gar nicht so einfach ist, weil ihm das Herz bis zum Hals
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