Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fische füttern - Genovesi, F: Fische füttern - Esche Vive

Fische füttern - Genovesi, F: Fische füttern - Esche Vive

Titel: Fische füttern - Genovesi, F: Fische füttern - Esche Vive Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Genovesi
Vom Netzwerk:
Natur kümmert sich nicht um das, was in der Menschenwelt geschieht.
    Es ist ihr egal, ob hier auf der Erde etwas gestorben ist.

DAS MÄRCHEN VON WLADIMIR
    Je kleiner in einer Stadt Krankenhäuser und Friedhöfe sind, umso besser, bedeutet es doch, dass die Leute nicht so oft krank werden und dass nicht allzu oft jemand stirbt. Die Notaufnahme von Pisa dagegen ist größer als eine Sportarena.
    Der gläserne Eingang öffnet sich automatisch, Kaffee-, Getränke- und Sandwichautomaten reihen sich aneinander, und ganz hinten ist eine blaue Tür, die nur von innen aufgeht und durch die man zu den Behandlungsräumen kommt. Wer übel dran ist, verschwindet auf einer Trage hinter dieser Tür, während die sorgenvollen Angehörigen kopfschüttelnd in diesem riesigen Wartebereich auf und ab gehen.
    Jetzt ist es Nacht, und außer mir sind hier nur fünf Chinesen, die in einer Ecke schlafen, eine Frau um die sechzig, die ununterbrochen am Telefon hängt, ohne einen Ton zu sagen, und ein Typ mit Ringen unter den Augen, der sich vielleicht nur einen Kaffee am Automaten ziehen will. Jedenfalls ist eine derart riesige Notaufnahme ein schlechtes Zeichen für eine Stadt.
    Als ich klein war, erzählte mir mein Vater abends vor dem Einschlafen ein Märchen. Im Nachhinein finde ich das merkwürdig und kann mir kaum vorstellen, dass mein Vater sich tatsächlich zu mir ans Bett setzte, aber es ist wirklich wahr. Der Mensch verändert sich je nach Lebensphase zum Guten oder zum Schlechten, und in jener Zeit setzte sich mein Vater eben an mein Bett und erzählte mir dieses Märchen in Fortsetzungen. Darin ritt einer namens Wladimir auf einem Esel durch die Welt. Dieser Esel war mal namenlos, mal hieß er Panizza. Jeden Abend machte Wladimir irgendwo Halt und wurde Zeuge einer Ungerechtigkeit oder eines Unglücks, und es gelang ihm immer, die Probleme zu lösen. Wenn ihn die Dorfbewohner dann als Helden feierten und ihn baten, bei ihnen zu bleiben, schaute er sich um, und wenn er den Friedhof entdeckte, fragte er Pardon, was ist das? Wenn man ihm sagte, das sei der Gemeindefriedhof, schüttelte er den Kopf, verabschiedete sich und zog mit seinem Esel weiter zu einem anderen, noch ferneren Ort. Denn Wladimir suchte nach dem Ort, wo die Menschen nicht sterben.
    Jetzt ist es drei Uhr nachts, und ich sitze in diesem riesigen Wartesaal eines Krankenhauses, das mir vorkommt wie eine kleine Stadt. Mir fällt diese Geschichte wieder ein, und ich denke, wenn ich Wladimir wäre, würde ich mich jetzt bedanken und schleunigst das Weite suchen.
    Ich bin aber nicht Wladimir, und ich habe auch keinen Esel. Ich bin Fiorenzo und mit dem Roller nach Pisa gekommen und verschwinde nicht eher von hier, bis ich weiß, wie es Mirko geht.
    Divo hat ihn hierhergebracht, der Alte, der früher mal Fernsehgeräte repariert hat. Er sagt, er sei gegen Mitternacht in der Nähe des Friedhofs spazieren gegangen, als plötzlich wie aus dem Nichts eine schwarz vermummte Gestalt aufgetaucht sei. Er habe Angst gekriegt und mit seinem Spazierstock zugeschlagen, bevor er gesehen hat, dass es Mirko war.
    Eine Geschichte, die vorn und hinten nicht stimmen kann, aber egal. Ich weiß, wie es gelaufen ist, vielleicht weiß ich es sogar besser als Divo und die anderen Wächter, die da draußen in der hintersten Ecke des Parkplatzes in Mazingas Fiat Panda sitzen und warten. Was ich jedoch nicht weiß, ist, was Mirko in den Sinn gekommen ist. Er hat sich meinen Umhang mit dem aufgedruckten Beil übergezogen, auf ein Stück weißen Pappkarton ALTE IHR MÜSST STERBEN geschrieben und ist dann zu Fuß zum Friedhof gelaufen. Warum ist er da hin, was hatte er vor? Wenn sie mich zu ihm lassen, erklärt er es mir vielleicht, ich mag aber nicht so recht dran glauben.
    Ich stehe auf, strecke mich, gehe zwei Schritte. Im Sitzen fühle ich mich nicht wohl, im Stehen fühle ich mich nicht wohl, ich bin nervös und angespannt und habe das Gefühl zu ersticken. Und es gibt eine Menge guter Gründe dafür.
    In dieses Krankenhaus bin ich einige Male wegen der Behandlungen und Untersuchungen gekommen, vor allem aber ist es der Ort, an dem mir klar wurde, dass ich nur noch eine Hand habe, und an dem ich erfahren habe, dass Mama tot ist. Also ist es nicht verwunderlich, dass ich mich hier fühle wie die Christen, als man sie ins Kolosseum führte.
    Vielleicht gehe ich besser raus, ja, ich warte draußen auf dem Parkplatz. Ich kann ja mit den Alten ein paar Worte wechseln, dann vergeht die Zeit schneller.

Weitere Kostenlose Bücher