Fische füttern - Genovesi, F: Fische füttern - Esche Vive
Rest gegeben.
Ich bin die ganze Nacht aufgeblieben, um sie zu lesen. Zwar war ich in einer halben Stunde durch, aber ich habe sie mehrmals gelesen, darin herumgeblättert und sie sortiert. Schon allein die Handschrift ist auffällig. Sie ist genau wie meine. Nicht wie meine jetzige, sondern wie meine von damals, als ich noch mit der Rechten geschrieben habe. Und auch die Ausdrucksweise, haargenau identisch, wirklich beeindruckend.
Auch das Lebensgefühl ist dasselbe. Das ständige Alleinsein, die Dreckskerle in der Schule und in der Spielhalle, die dich hänseln. Und dann die Probleme mit dem Sex und niemanden zu haben, den man um Rat fragen kann.
Reiner Zufall, wer weiß. Oder dieser Teufelskerl hat irgendwie bei mir abgekupfert. Vielleicht liegt es aber auch nur daran, dass sich jeder Mensch einzigartig und unvergleichlich vorkommt, obwohl doch letztlich alle gleich sind und sich mit denselben Problemen rumschlagen und dieselben Bedürfnisse haben.
Die Italienischlehrerin ist übrigens dieselbe, die ich in der Mittelschule hatte. Tecla Isola Pudda, diese widerliche Zwergin. Wir haben sie Pute oder Mooskopf genannt, weil sie Haare hatte, die aussahen wie ein Moosbüschel. Schon zu meiner Zeit war die Pute sechstausend Jahre alt und verbrachte die gesamte Unterrichtsstunde vor dem Heizkörper, weil ihr immer kalt war. Auch ins Klassenbuch schrieb sie auf dem Heizkörper, und wenn sie dich aufrief, um dich abzufragen, war schwitzen angesagt. Sie hasste uns alle, diese Tecla Pudda. Sie meinte, dass wir unverschämt und gefühllos seien, vielleicht, weil ihr Sohn mit sechzehn gestorben ist und wir so unverschämt und gefühllos waren, noch am Leben zu sein.
Und wenn der kleine Champion bei der Pudda eine Vier kriegen muss, um versetzt zu werden, buch ich ihm lieber gleich eine Fahrkarte ins Molise. Mit dem Flugzeug oder dem Zug oder einfach per Arschtritt, das kann er sich aussuchen.
In gewisser Weise habe auch ich eine Entscheidung getroffen. Vielleicht ohne es zu wollen. Denn als ich diese Gedanken beiseiteschiebe und hochschaue, sehe ich, wohin mich meine Füße getragen haben.
Zur Jugendinfo.
Und da ich gerade keine neugeborenen Kätzchen dabeihabe, gibt es dafür wohl nur einen Grund.
Was mach ich, geh ich rein? Soll ich klopfen? Es ist ein Büro, klopft man an, bevor man ein Büro betritt?
Dumme, sinnlose Fragen, denn ich bin längst drin. Diese Dunkelheit. Wie in einem etruskischen Grab. Tiziana sitzt hinten am Schreibtisch, in ein Buch vertieft. Jetzt nicht mehr. Sie hat das Buch zwar noch in der Hand, aber sie starrt mich an. Ich starre sie an.
»Ciao Tiziana.«
»Ja … ah, ja, ja, ciao.« Sie steht abrupt auf.
Ich raffe meine Haare im Nacken zusammen und versuche zu lächeln, obwohl sämtliche Gesichtsmuskeln in die entgegengesetzte Richtung ziehen. Aber ich bin der Boss, nur keine Geschichten, es wird gemacht, was ich sage. Nach und nach stellt sich das Lächeln ein.
»Ciao«, sage ich noch mal.
»Ciao … gut, dass du gekommen bist, Fiorenzo. Ich hätte zu dir kommen sollen. Entschuldige.«
»Wofür.«
»Für alles, entschuldige bitte.«
»Aber wofür denn.«
»Für alles. Für … na ja, alles. Hoffentlich habe ich dich nicht verletzt. Ich schwör’s, ich weiß nicht, was in mich … das ist nicht meine Art, so was ist wirklich nicht meine Art. Ich weiß schon, das ist der Standardsatz eines Flittchens, wenn sie etwas Flittchenmäßiges macht, aber ich schwör’s, dass ich nicht so eine bin. Und wenn du dich verletzt gefühlt hast, versteh ich das und bitte dich um Verzeihung.«
»Wieso verletzt. Also, ich fühl mich nicht im Geringsten verletzt.«
»Oh, aha, na zum Glück.« Und Tiziana lächelt, mehr oder weniger. Auch ich lächle. Und jetzt?
Schweigen.
Vollkommen absurd, einfach so dazustehen und nichts zu sagen und zu tun. Letztes Mal haben wir uns abgeknutscht und aneinandergedrückt, ist das jetzt alles schon wieder vorbei, und sie bittet mich um Entschuldigung, und das war’s dann? Na klar, was dachtest du denn? Ich bin ein Idiot, wozu bin ich überhaupt hergekommen, ich Trottel, ich tu mir selbst leid. Dabei halte ich den rechten Arm immer noch in der Hosentasche, ich versenke ihn darin, bis es wehtut. Ich muss irgendwas sagen, dieses Schweigen bringt mich um.
»Weißt du was, ich habe Mirkos Aufsätze gelesen«, sage ich.
»Aufsätze? Ach ja, klar. Und wie sind sie, gut?«
»Ich weiß nicht. Nicht wirklich. Sie sind eigenartig.«
»Ach
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