Fischland Mord - Küsten-Krimi
begegnet, sie kannte nur ein Foto, das ihn
auf Tinas Ausstellung in Stralsund zeigte – und eine Menge Erzählungen von
Violetta: Raimund Degenhard. Sie hatte kaum noch an ihn gedacht, so weit hinten
stand er auf ihrer Verdächtigtenliste. Dabei hatte er von Anfang an das
eindeutigste Motiv gehabt. »Wahrscheinlich«, bestätigte sie, immer noch etwas
benommen.
»Warum verhaften Sie ihn dann nicht?«
Da ließ Paul die Bombe platzen. »Weil wir nicht die
Polizei sind«, sagte er.
»Sie sind nicht …« Fassungslos starrte Susanne Boes von ihm zu
Kassandra und zurück. »Sie sind nicht von der Polizei? Wer sind Sie dann? Mit welchem Recht kommen Sie zu mir und stellen mir
all diese Fragen und zwingen mich dazu …«
»Frau Boes«, unterbrach sie Paul. »Sie haben bloß angenommen, dass
wir von der Polizei sind, und versäumt, uns nach unseren Dienstausweisen zu
fragen. Ich gebe zu, dass das hilfreich für unsere Zwecke
war. Und ich entschuldige mich, dass wir Sie nicht über Ihren
Irrtum aufgeklärt haben.« Seine Stimme klang ehrlich, hatte alles
Bedrohliche verloren, was Susanne Boes nicht verborgen blieb. Sie
schüttelte den Kopf, vielleicht sogar über sich selbst.
»Sie waren unsere einzige Möglichkeit, etwas über Arnold Kesting zu
erfahren und über das, was er getan hat«, fügte Kassandra hinzu, »oder besser nicht getan hat. Ihr Name stand in seinem Kalender, aber wir wussten nicht, ob dieser Eintrag echt war oder nachträglich
eingefügt wurde.«
»Wie schön, dass ich Ihnen helfen konnte.« Susanne Boes sah zwar
noch etwas erschlagen aus, ließ aber inzwischen einen gewissen
Galgenhumor durchblitzen. »Dieser angebliche Kommissar Dietrich,
der war wohl auch eine Fälschung? Sonst hätten Sie ja nicht sofort gewusst, wen
ich meinte. Obwohl er mir immerhin einen Ausweis unter die Nase gehalten hat.«
Wenn sie Susanne Boes’ Vertrauen gewinnen wollten, sollten sie ihr
vermutlich die Zusammenhänge erklären. Andererseits brachten sie sie damit auch
in Gefahr. Paul hatte sich eben schließlich nicht ohne Grund geweigert, ihr
Degenhards Namen zu nennen. Zudem fragte sich Kassandra, ob sie ihrerseits
Susanne Boes trauen konnten. Sie hatte erschrocken genug gewirkt, aber
was, wenn Pauls ursprüngliche Vermutung stimmte und das hier
nichts weiter als eine Falle war? Dagegen sprach, dass Susanne Boes Raimund
Degenhard identifiziert hatte, mit dem Arnold bisher nie in Verbindung gebracht
worden war. Woher sollte sie ihn kennen, wenn es sich nicht so zugetragen
hatte, wie sie behauptete?
»Wären Sie bereit, das, was Sie uns gerade gesagt haben, auch der
Polizei zu erzählen?«, erkundigte sich Kassandra vorsichtig.
»Warum sollte ich? Ich bin viel zu erleichtert, dass Sie nicht die
Polizei sind. Das heißt nämlich, ich kann Arnolds Geld behalten und bin meine
Schulden los.«
»Das können Sie in jedem Fall«, sagte Paul. »Kesting hat Sie für ein
falsches Alibi bezahlt. Ich bin kein Jurist, aber das dürfte ein sittenwidriges
Geschäft sein. Er kann sie schlecht verklagen, weil Sie Ihren Teil der
Abmachung nicht eingehalten haben.«
»Außerdem wären Sie ehrlich«, fuhr Kassandra fort. »Wir können nicht beweisen, dass Arnold und dieser andere Mann Josef Kind
ermordet haben, aber Ihre Aussage könnte dazu beitragen, dass
Untersuchungen angestellt werden, die es unter Umständen
beweisen.« In ihrem Hinterkopf spürte Kassandra den diffusen
Gedanken an ein Problem heranwachsen, doch er verschwand gleich wieder, als
Susanne Boes antwortete.
»Und was ist mit den Konsequenzen wegen Unterstützung oder
Verschleierung einer Straftat oder wie immer man das nennt? Ich fürchte, ich
kann mir Ehrlichkeit und Moral nicht leisten. Was hab ich davon, wenn Josef
Kinds Mörder hinter Gitter sitzt?« Sie hatte sich verhältnismäßig schnell erholt,
trat ruhig und selbstbewusst auf.
»Sicherheit«, antwortete Paul, wieder mit einer gewissen Schärfe in
der Stimme. »Arnold Kesting und sein Komplize werden sich denken, dass Sie
mittlerweile vermuten, worum es hier geht. Aus deren Sicht sind Sie eine
Mitwisserin. Haben Sie sich mal überlegt, was das heißt?«
Ein Stück von Susanne Boes’ neu gewonnenem Selbstvertrauen
bröckelte, hinter ihrer Stirn arbeitete es. »Woher soll ich wissen, ob ich
Ihnen trauen kann? Wer ist dieser Dietrich, und was hat er mit Ihnen zu tun?
Oder gehört er zu Arnold?«
Kassandra entschloss sich zu einem Teil Offenheit und
erläuterte, wie alles angefangen hatte, mit Josef Kinds
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