Fischland Mord - Küsten-Krimi
drüben.« Er leuchtete über den Boden, fand eine
Metallstange und schlug damit gegen die Mauer. Danach brüllte er
mit dem Mund dicht an der Wand: »Hallo? Ist da jemand?«
Kassandra hielt die Luft an, bis sie etwas Dumpfes hörte, das wie
eine Antwort klang. »Ruft da wer?«
»Hört sich so an. Und dieser jemand schlägt auch mit einem
Gegenstand auf etwas ein. Nicht auf die Mauer, sonst wäre es lauter. Vielleicht
auf den Boden oder einen Pfeiler, einen oder zwei Räume weiter.« Erneut
benutzte er die Metallstange und wartete, bis die Antwort kam.
»SOS!« Kassandras Augen weiteten sich.
Jonas nickte. »Da braucht eindeutig jemand Hilfe. Ich hab nur keine
Ahnung, wie wir von diesem Keller in den anderen kommen oder wo ein zweiter
Zugang sein könnte. Ich weiß nicht mal mehr, unter welchem Teil des Gebäudes
wir sind.«
»Wir sollten die Polizei rufen. Nicht dass ich auf die allzu großen
Wert lege, aber wir haben keine Wahl.«
»Doch«, sagte Jonas zu Kassandras Erstaunen. »Haben wir. Hol Paul.
Er wird wissen, wie wir weiterkommen.«
»Aber meinst du nicht, die Polizei …«
»Kassandra, willst du unbedingt noch mehr Aufmerksamkeit auf dich
ziehen? Vielleicht steckt da ein Jugendlicher in der Klemme, der sich den
falschen Platz für was auch immer ausgesucht hat – dafür brauchen wir keine
Polizei. Allerdings sollte einer von uns hierbleiben, damit derjenige da drüben
weiß, dass er nicht länger allein ist und Hilfe kommt. Mir wäre es lieber, du
gehst Paul holen, ich würde dich ungern in diesem Loch zurücklassen.«
»Wenn du meinst.« Halb erleichtert, dass die Polizei
erst mal außen vor gelassen werden sollte,
fischte sie nach ihrem Handy. »Aber das geht ja
wohl schneller, wenn wir ihn anrufen. – Mist, kein Netz. Ich
versuch’s oben.«
»Netzempfang wird dir nichts nutzen. Wenn Paul
arbeitet, schaltet er Telefon und Handy ab. Du
musst ihn holen«, beharrte Jonas.
»Was arbeitet er denn?«, fragte Kassandra und dachte einen Moment
lang nicht daran, dass sie gerade andere Probleme hatten. Da hörte sie wieder
die Geräusche. »Jaja, vergiss es. Wo find ich ihn?«
»Zur Glippe. Letztes Haus, das mit der Glasfront.«
Kassandra hatte sich schon immer gefragt, wer dort direkt hinterm
Deich wohnte. Als sie endlich wieder im Tageslicht stand, beschloss sie,
querfeldein zu Paul zu laufen. Leider lag die Zeit, in der sie regelmäßig
gejoggt war, schon länger zurück. Sie hoffte, dass sie dennoch durchhalten
würde, und sprintete los. Dreimal musste sie innehalten, um wieder zu Atem
kommen, was auch daran lag, dass es unverändert stürmte und der Wind ihr die
Luft nahm.
Pauls Haus war ursprünglich ein kleines Einfamilienhaus gewesen, dessen hinteren Teil er aufgestockt hatte. Die Seeseite war komplett
verglast, man musste aus dem oberen Geschoss einen traumhaften
Blick auf die See haben. Vorn war es dunkelblau verputzt, die
Tür, an der Kassandra immer noch außer Atem klingelte, hellblau gestrichen.
»Großer Gott, Kassandra!« Paul sah sie entsetzt an, bevor er sie an
sich zog und einen kurzen Augenblick lang hielt. Kassandra ließ es geschehen und schloss die Augen. Dann schob Paul sie ein Stück
von sich und musterte sie immer noch erschrocken. Erst jetzt wurde
ihr bewusst, wie sie aussehen musste: verdreckt vom Herumklettern in der Ruine,
verschwitzt und aus der Puste vom Laufen, die Haare zerzaust vom Sturm.
»Nun sag schon, was los ist!«, verlangte Paul.
Sie holte Luft und brachte endlich heraus, was Jonas und sie in der
Seefahrtschule gehört hatten. Es kam ihr zwar ausgesprochen unpassend vor, aber
sie konnte ihren Blick währenddessen nicht von Paul nehmen. Er war barfuß, trug
nur T-Shirt und Jeans. Seine Lesebrille hatte er auf die Haare geschoben, und
für einen Mann, der ständig auf seinem Alter rumritt, wirkte er erstaunlich
durchtrainiert. Wahrscheinlich hätte er die Strecke von der Schule
bis hierher in der Hälfte der Zeit geschafft.
»Alles klar«, sagte er, als sie geendet hatte, »ich
zieh mir was über, bin gleich wieder da.« Er lief eine
freitragende Treppe hoch, die zu einer Art Galerie führte. Kassandra schaute
ihm nach und bemerkte, dass der Raum, in dem sie stand, fast das ganze Haus
einnahm, er war offen nach allen Seiten, bis zu einer Küchenzeile und nach
oben, wo sich Pauls Schlafbereich befand. Sie konnte ein Bett erkennen und den
Teil eines ebenfalls offenen Regals. Unten waren die Wände mit Bücherregalen
gepflastert, auf einem Schreibtisch stand
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