Fischland-Rache

pensioniert oder nicht. Mag sein, dass es Kollegen gibt, die dieses Wort nicht verdienen, aber Sie wissen, dass ich den Dingen gern auf den Grund gehe, bevor ich mir ein Urteil bilde. Normalerweise jedenfalls.« Er wirkte jetzt etwas zerknirscht. »Da wir vorhin von Schuld sprachen – ich habe mich nie entschuldigt, dass ich Sie damals so vorschnell zu Unrecht verdächtigt habe.« Er stieß sich vom Türrahmen ab, stand sehr aufrecht und schaute sie ernst an. »Verzeihung. Ich war ein Idiot.« Ein schiefes Grinsen erhellte sein Gesicht. »Und wenn Sie wollen, auch ein Macho.«

18
    Â»Das ist nicht Clemens.« Paul lehnte sich auf seinem Schreibtischstuhl nach hinten, noch während die Gestalt auf dem Notebook-Display vom Parkplatz zurück zum Hotel lief.
    Â»Du scheinst dir sehr sicher zu sein«, meinte Kassandra, die ihm über die Schulter gesehen und die Szene ebenfalls verfolgt hatte.
    Â»Absolut. Ich bin mir weniger sicher, was Inga oder Mirko angeht, aber wer immer es ist, geht zu schnell für Clemens.«
    Â»Was meinst du damit?«, fragte Kassandra.
    Â»Hast du Clemens je schnell gehen sehen?«
    Kassandra dachte nach. »Nein, im Gegenteil. Sogar als er es eilig hatte, von uns wegzukommen, bei Inga und später auf der Seebrücke, ließ er sich eine Menge Zeit.«
    Paul nickte. »Sein rechtes Bein ist etwas kürzer als das linke. Das merkt man nicht, solange er langsam geht, aber wenn er sich schneller bewegt, so wie die- oder derjenige auf dem Video, ist es nicht zu übersehen. Wie Herr Dietrich legt Clemens wenig Wert darauf, mitleidig angestarrt zu werden, deswegen macht er andere nicht unnötig auf seine kleine Behinderung aufmerksam.«
    Â»So viel zu der Theorie mit dem Mietwagen.« Kassandra konnte sich gerade noch zurückhalten zu sagen, wie gut das gepasst hätte. Paul hörte es ihr anscheinend trotzdem an.
    Â»Ihr zwei habt euch ja gestern wirklich was einfallen lassen«, sagte er. »Und alles wegen Violetta. Hast du übrigens mal daran gedacht, sie zu verdächtigen?«
    Pauls ironischer Ton wurmte Kassandra etwas. Gut, vielleicht war die Idee mit dem Doppelgänger ein bisschen verrückt, aber Dietrich hatte sie immerhin für denkbar gehalten. »Du hast gesagt, du wärst dir weniger sicher, was Inga und Mirko angeht«, erinnerte sie ihn. »Woran liegt das?«
    Ohne zu antworten, ließ Paul die Parkplatz-Szene erneut ablaufen und schaute konzentriert auf die schwarz-weiße Gestalt mit dem Tattoo. Er war am Nachmittag aus Schwerin zurückgekommen, unrasiert und müde. Unrasiert, weil er seinen Rasierer vergessen hatte, müde, weil er auf dem unbequemen und viel zu kurzen Sofa seiner Mutter kaum geschlafen hatte. Zu Hause hatte er sich unter die Dusche gestellt, sich rasiert und drei Tassen Kaffee getrunken, bevor er sich Dietrichs Film ansah. Das tat er gerade zum dritten Mal. Kassandra störte ihn nicht, sie würde alle Geduld der Welt aufbringen, wenn das am Ende hieß, dass sie nicht nur nach einem Strohhalm griff, sondern sich in die nächste Ecke stellen müsste, um sich zu schämen, dass sie Heinz zwischendurch verdächtigt hatte. Schließlich ließ Paul sich erneut zurückfallen, kopfschüttelnd diesmal. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass das Inga ist. Trotzdem scheint was falsch zu sein, ich komm bloß nicht drauf, was.«
    Â»Kann es sein, dass du Inga in der Person erkennen möchtest?«, fragte Kassandra vorsichtig.
    Â»Ich hab mir Mühe gegeben, neutral zu bleiben«, sagte Paul. Jetzt galt die Ironie ihm selbst.
    Â»Das heißt, du hast sowohl Inga als auch Mirko in Betracht gezogen?«
    Â»Ja.« Paul beugte sich wieder vor und ließ den Film ein viertes Mal abspielen.
    Â»Du kennst Mirko sehr lange, viel besser als Inga«, stellte Kassandra fest. »Fällt dir was auf, das auf ihn hindeuten könnte?«
    Paul schloss die Augen und schien nun einen Film zu betrachten, der in seinem Inneren ablief. »Nichts Besonderes. Dietrich hat recht, Mirko hat eine ähnliche Statur wie Inga, er hätte es schon allein deshalb leichter, sie nachzuahmen.«
    Â»Trotzdem wäre ihm das nur scheinbar perfekt gelungen. Du hast gesagt, dir käme etwas falsch vor.«
    Â»Das ist ein so vages Gefühl, dass ich mir das ebenso gut einbilden könnte. Letztlich kann ich nicht mit Garantie sagen, wer