Fischland-Rache
Ruhe, und je länger sie dort standen, desto mehr drängte sich Kassandra der Gedanke auf, dass dies womöglich eine äuÃerst trügerische Ruhe war.
11
Von einer Sekunde auf die andere saà Kassandra aufrecht im Bett. Sie konnte sich nicht erinnern, was sie geträumt hatte, aber ihr Herz raste noch immer, ihr Atem ging schnell. Sie riss sich zusammen, bemüht, leise zu sein, weil sie Paul nicht stören wollte, falls sie ihn nicht schon durch ihre heftige Bewegung geweckt hatte. Mit schlechtem Gewissen sah sie zur Seite und stellte fest, dass sie allein war.
Bitte nicht schon wieder, dachte sie. Doch dann wurde ihr bewusst, dass etwas anders war als letztes Mal. Sie fühlte sich nicht allein. Gleichzeitig hörte sie von unten ein leises Geräusch, als blätterte jemand Seiten um. Kassandra schob ihre Beine aus dem Bett und schlüpfte in ihre dicken Winterpantoffeln.
Unten saà Paul ans Sofa gelehnt auf dem FuÃboden, ein groÃes Buch auf den Knien. Er hörte sie kommen, schob seine Lesebrille auf die Haare und sah ihr entgegen. Etwas in seinem Blick lieà Kassandra innehalten, unsicher, ob ihre Gegenwart willkommen war, bis Paul wortlos die Hand nach ihr ausstreckte. Als sie sich neben ihm niederlieÃ, erkannte sie, dass das Buch ein Fotoalbum war â und dass er schon längere Zeit hier saÃ.
»Du bist ein Eisklumpen!«, sagte sie entsetzt und griff nach der Decke auf dem Sofa. Paul legte den Arm um sie und zog sie zu sich heran, sodass die Decke bequem für sie beide reichte. Mit der freien Hand hielt er das Album fest, das Kassandra jetzt näher betrachtete. Es war nicht besonders hell im Raum, nur eine kleine Stehlampe leuchtete hinter dem Sofa, aber es reichte, um zu erkennen, dass es alte Fotos waren, die Paul sich ansah. Kassandra beugte sich vor â und brach in Kichern aus.
»Meine Güte, bist du das?« Sie zeigte auf den Zweiten von links in einer Gruppe sehr junger Männer, die meisten nicht mal zwanzig Jahre alt. Alle trugen lange Haare, Koteletten, bunte Hemden, gegen deren Muster und Farben sich das von Mirko bieder ausnahm, und Schlaghosen.
Paul gab ein gespielt beleidigtes Schnauben von sich. »Findest du nicht, dass ich gnadenlos attraktiv war?«
»Doch«, prustete Kassandra. »Natürlich. Entâ¦schuldige.«
»Du magst mich also alt und grau lieber als jung und langhaarig?«
»Entschieden.«
»Wie beruhigend.«
Kassandra bemühte sich um Ernsthaftigkeit, während sie die übrigen Bilder auf der Seite ansah. Die meisten zeigten mehr oder weniger dieselben Jungs, anscheinend Pauls damalige Clique. »Wer sind die anderen?«, fragte sie. »Kenne ich da welche von?«
»Nein. Von denen ist niemand mehr hier.« Paul deutete nacheinander auf die Jungs und nannte ihre Namen, mehr für sich selbst als für Kassandra, so kam es ihr vor. »Uwe Beck, Frank Pagels, Micha Lange, Karsten Rode. War eine verrückte Zeit damals. Wir hatten den Kopf voller Dinge, für die einige Leute nur wenig Verständnis gehabt hätten. War uns ziemlich egal.« Paul blätterte weiter. Auf der nächsten Seite waren noch einmal dieselben Jungs zu sehen, erweitert um ein, zwei neue Gesichter. Diese Bilder waren im Sommer entstanden, die jungen Männer lagen â drei von ihnen mit Mädchen neben sich â auf Badetüchern am Strand und lachten in die Kamera. Paul wollte erneut weiterblättern, doch Kassandra berührte seine Hand und hielt ihn davon ab, ehe ihr überhaupt klar war, was sie tat.
»Sag das noch mal«, bat sie.
Paul zögerte. »War eine verrückte Zeit damals«, sagte er langsam.
»Nein. Die Namen.« Sie blätterte zurück und betrachtete das Gruppenfoto von vorhin genauer. »Welcher ist Michael Lange?«
Paul tippte auf einen Blonden, der am breitesten lachte und es faustdick hinter den Ohren zu haben schien. Kassandra erinnerte sich an Sonntagabend, an Ingas vergnügtes Grinsen, nachdem Mona der unsäglichen Claudia Berghuber klargemacht hatte, dass sie selbst Inhaberin von »Kolbert Colliers« war.
Nein. Das war bloà Einbildung. Nur weil beide zufällig Lange hieÃen â¦
»Lange ist kein Name, sondern ein Sammelbegriff«, wiederholte Kassandra flüsternd Dietrichs Worte.
Paul antwortete nicht, er lieà zu, dass sie das Album auf ihre Knie nahm und sich die Bilder sehr sorgfältig ansah.
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