Fischland-Rache
Eines war darunter, das Michael Lange nicht lachend, sondern mit ernsterem Gesichtsausdruck zeigte, und Kassandra fühlte sich an das Foto erinnert, auf dem Inga vor ihrem Gefängnisaufenthalt keine Miene verzogen hatte.
»Deshalb wolltest du zu Inga.« Sie schob das Album zu Paul zurück. »Es war dir ganz egal, was sie mit dir zu besprechen hatte. Deshalb hast du dich auch an den Tisch gesetzt, der am weitesten von der Küche entfernt war. Du wolltest möglichst viel Zeit haben, sie zu beobachten.«
Paul nickte. »Es ist mir vorher nie aufgefallen, aber sie bewegt sich tatsächlich wie Micha. Und diese Angewohnheit, die Arme auf dem Tisch zu kreuzen â ich hab das früher tausendmal bei ihm gesehen. Wie kann es sein, dass ich es bei Inga nie bemerkt habe?«
»Weil du es nicht erwartet hast. Wieso auch? Erst Dietrichs Foto von ihr hat was bei dir ausgelöst, nehme ich an.«
»Ich kann nicht mal konkret sagen, was, aber als er auch noch diese Sache mit dem Sammelbegriff erwähnte, dachte ich: Das passt.«
»Was ist aus Micha geworden?«, fragte Kassandra.
»Ich weià es nicht, ich hab seit Jahrzehnten nichts mehr von ihm gehört.« Er blätterte in dem Album und schien ein bestimmtes Foto zu suchen. Als er es fand, nahm er es heraus und reichte es Kassandra. Vermutlich hatte Paul es selbst geschossen, sie erkannte darauf Michael Lange und Karsten Rode. Im Hintergrund stand ein weiterer junger Mann, den die Kamera nur undeutlich erfasst hatte.
»Micha, Karsten und ich waren der Kern unserer Truppe â unzertrennlich, wie es sich für eine echte Männerfreundschaft eben gehört. Was wir noch so trieben, auÃer uns um unsere Mädchen zu kümmern, am Strand zu feiern und ab und zu die falsche Musik zu hören, wussten die meisten Wustrower nicht, nicht mal die aus unserer Clique. War auch besser, die anderen Jungs wurden so schon genug in die Mangel genommen, nachdem sie uns drankriegten.«
Als Paul Kassandra vor einigen Monaten erzählt hatte, dass er als junger Mann eine Zeit lang in Bautzen II gesessen hatte, dem Stasi-Knast, hatte er sich über den Grund ausgeschwiegen. Kassandra hatte ihn nicht bedrängen wollen und ihn nie danach gefragt. Bis jetzt.
»Wofür?«, fragte sie leise.
»Wir hatten einen Piratensender.«
Kassandra wusste nicht recht, was sie erwartet hatte â das jedoch ganz sicher nicht. »Einen Piraten⦠Mit Westmusik und so? Ging das überhaupt?«
Paul richtete den Blick kurz nach innen und lächelte dann. »Das ging sogar erstaunlich gut. Wir haben aber nicht nur Westmusik gespielt â das war schlieÃlich auch nicht immer die Krone der Schöpfung â, sondern genauso Sachen von DDR -Musikern. Solchen, die allgemein beliebt waren, und solchen, die in gewissen Kreisen weniger gut ankamen. Alles eben, was uns gefiel und was wir auf welchen Wegen auch immer kriegen konnten. Dafür waren Karsten und ich zuständig. Micha war ein paar Jahre älter als wir, er studierte an der Seefahrtschule. Schon ganz ohne Studium hatte er viel über Funkfrequenzen gewusst, weil ihn das faszinierte, und die Grundlagenausbildung hier war auÃerdem überaus nützlich, weil man da einiges über Elektrotechnik lernte.« Pauls Lächeln wurde breiter, bevor es wieder verschwand. »Natürlich wollten die uns auf die Schliche kommen, sie haben Peilwagen geschickt, die uns orten sollten. Hätten wir das Ganze in Wustrow veranstaltet, wären wir bestimmt eher aufgeflogen, die Auswahl an Standorten wäre ja nicht sehr groà gewesen. Wir haben aber aus dem Keller eines leer stehenden Hauses in Ribnitz gesendet, und fast elf Monate lang hat uns niemand erwischt. War manchmal verteufelt knapp, aber wir haben es immer rechtzeitig geschafft, sämtliche Stecker zu ziehen. Nur einmal nicht.« Paul tippte auf das Foto, diesmal auf den Jungen, der nur undeutlich im Hintergrund zu sehen war. »Erkennst du ihn?«
Kassandra beugte sich vor, konnte aber beim besten Willen nicht sagen, wer das sein sollte.
»Ralf Peters«, erklärte Paul.
»Der war auch in eurer Clique?«
»Nicht wirklich. Er war mit Karsten zusammen in der Lehre und lungerte hin und wieder bei uns rum, genauso wie bei anderen. Er wollte nur irgendwo dazugehören. Micha meinte, wir sollten ihm eine Chance geben, Karsten war dagegen, ich war unsicher, lieà mich am Ende
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