Fitz der Weitseher 01 - Der Weitseher
den Fuß des Hügels herumführte, und entfernte sich rasch. Der Wind strich raschelnd durch das noch wintergelbe, hohe Gras, das dicht über dem Boden aber bereits grün war. Ringsum konnte ich weitere Erhebungen erkennen, deren Grasnarben an den Flanken jeweils von felsigen Auswüchsen durchbrochen und deren Sockel bewaldet waren. Ich ließ zur Orientierung den Blick wandern. Ich befand mich in hügeligem Gebiet, aber aus östlicher Richtung wehte der Geruch von Meer und Gezeiten heran. Überdies konnte ich mich des Gefühls nicht erwehren, schon einmal in dieser Gegend gewesen zu sein, zwar nicht genau an diesem Punkt, aber zumindest wirkte die Landschaft irgendwie vertraut. Dann entdeckte ich im Westen den Wächter, einen Berg mit einem unverkennbar tief eingekerbten Doppelgipfel. Vor weniger als einem Jahr hatte ich für Fedwren die Kopie einer Landkarte angefertigt, und der ursprüngliche Kartograph hatte sich die markante Silhouette des Wächters als Motiv für die Randverzierung ausgesucht. Nun gut. Dort das Meer, dort der Wächter, und mein Magen krampfte sich zusammen, als mir plötzlich klar wurde, wo man mich abgesetzt hatte - nämlich ganz in der Nähe von Ingot.
Ich ertappte mich dabei, wie ich mich hastig um die eigene Achse drehte, um die Hügel, die Wälder und die Straße abzusuchen. Keine Spur von einem lebenden Wesen. Der Verzweiflung nahe spürte ich nach außen, fand aber nur Vögel und Kleingetier und einen Rehbock, der verwundert den Kopf hob, witterte und sich fragte, wer ich sein mochte. Gerade als ich aufatmen wollte,
fiel mir ein, dass bei früheren Begegnungen die Entfremdeten sich mit diesem Sinn nicht hatten entdecken lassen.
Ohne lange nachzudenken, ging ich ein Stück den Abhang hinunter zu einer Gruppe von Felsblöcken und ließ mich in ihrem Schutz nieder, nicht wegen des kalten Windes, denn es lag eine Ahnung von Frühling in der Luft, sondern ich wollte etwas Festes im Rücken haben. Oben auf der Hügelkuppe hatte ich mich zu angreifbar gefühlt. Nun hieß es, ruhig Blut bewahren und die nächsten Schritte zu überlegen. Galen hatte uns empfohlen, zunächst an unserem Standort zu bleiben, zu meditieren und mit offenen Sinnen zu lauschen. Innerhalb einer Spanne von zwei Tagen wollte er dann Kontakt zu uns aufnehmen.
Nichts wirkt deprimierender, als eine Niederlage vor Augen zu haben. Ich bezweifelte, dass Galen ernsthaft vorhatte, sich mit mir in Verbindung zu setzen, oder falls doch, dass ich seine Nachricht empfangen konnte. Ebenso wenig glaubte ich, hier an dem Ort, den er sich für mich ausgesucht hatte, sicher zu sein. Kurzerhand stand ich auf, hielt noch einmal Umschau, ob jemand mich beobachtete, und marschierte dann in Richtung der Meeresbrise. Wenn ich mich dort befand, wo ich glaubte, mich zu befinden, dann musste es vom Ufer aus möglich sein, die Geweih- oder sogar die Linneninsel zu sehen. Schon eine von beiden reichte mir aus, um meine Position zu bestimmen.
Beim Gehen redete ich mir ein, dass ich nur feststellen wollte, wie weit der Rückweg nach Bocksburg war, der mir bevorstand. Nur ein Dummkopf rechnete noch mit Entfremdeten in dieser Gegend. Bestimmt hatte der Winter ihnen den Garaus gemacht, oder aber sie waren zu ausgehungert und schwach, um eine Gefahr darzustellen. Den Geschichten, dass sie sich zu Banden von Halsabschneidern und Straßenräubern zusammenrotteten,
schenkte ich keinen Glauben. Ich hatte keine Angst. Ich wollte mich nur überzeugen, wo ich war. Falls Galen kein falsches Spiel mit mir treiben wollte, dann durfte das Wo keine Rolle spielen. Unzählige Male hatte er uns versichert, dass es die Person war, zu der man »dachte«, nicht der Ort. Er konnte mich am Strand ebenso leicht finden wie auf dem Hügel.
Am späten Nachmittag hatte ich einige verwitterte Klippen erreicht und schaute übers Meer. Da war die Geweihinsel und dahinter erblickte ich einen verschwommenen Fleck - es war Linnen. Ich befand mich nördlich von Ingot. Die Küstenstraße nach Hause führte geradewegs durch die Ruinen der zerstörten Stadt. Kein sehr angenehmer Gedanke.
Und was nun?
Am Abend war ich wieder auf meinem Hügel und kauerte zwischen den Felsen. Ich war zu dem Schluss gekommen, dass dieser Platz sich ebenso gut zum Warten eignete wie jeder andere. Trotz meiner Zweifel würde ich dort ausharren, wo man mich zurückgelassen hatte, bis die ausgemachte Zeitspanne verstrichen war. Mein Abendessen bestand aus Brot und Trockenfisch, dazu trank ich sparsam von
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