Fitz der Weitseher 01 - Der Weitseher
Nomaden oder Vagabunden. Was wir schaffen, soll von Dauer sein und ein sesshaftes Volk findet deshalb nur Sicherheit in dem Bewusstsein einer gesicherten Zukunft.«
Bei diesen letzten Worten blickte ich ihn scharf an. Das waren ganz und gar Chades Worte - ich hätte meinen Kopf darauf verwettet. Handelte es sich bei dieser Hochzeit etwas um ein Arrangement, bei dem Chade seine Hand im Spiel hatte? Meine Neugier wuchs. Weshalb war ich eigentlich zu diesem Frühstück eingeladen worden?
»Es geht darum, unserem Volk dieses Gefühl von Sicherheit zurückzugeben, mein Sohn. Du besitzt aber weder Edels Charme noch Chivalrics unbesiegbare Ausstrahlung. Dies soll deine Verdienste nicht herabwürdigen, wo doch die Gabe in dir so stark wie nur bei wenigen unseres Geschlechts vorhanden ist, und in vielen Epochen wäre dein taktisches Genie für uns wichtiger gewesen als Chivalrics diplomatisches Geschick.«
Das klang in meinen Ohren verdächtig nach einer einstudierten Rede. Ich sah Listenreich an, der eine Brotschnitte mit Käse belegte und nachdenklich hineinbiss. Veritas saß schweigend da und beobachtete seinen Vater. Er machte einen genauso konzentrierten wie abwesenden Eindruck, wie jemand, der sich verzweifelt darum bemüht, wach und aufmerksam zu bleiben, während er sich doch nichts anderes wünscht, als den Kopf auf ein Kissen zu betten und die Augen zu schließen. Da ich nach meinen wenigen Erfahrungen mit der Gabe wusste, welche Selbstbeherrschung es erforderte, einerseits ihren Verlockungen zu widerstehen und sie sich andererseits zunutze zu machen, staunte ich über Veritas’ Leistung, diese Gratwanderung jeden Tag zu meistern.
Listenreich wechselte den Blick von Veritas zu mir und wieder zurück in das Gesicht seines Sohnes. »Um es einfach zu sagen: Du musst heiraten. Mehr noch als das: Du musst ein Kind zeugen. Das wird das Volk beschwichtigen, und es wird sagen: ›Nun, es kann ja alles nicht so schlimm sein, wenn unser Prinz sich jetzt dazu entschließt, zu heiraten und ein Kind in die Welt zu setzen. Bestimmt täte er das nicht, wenn die Gefahr bestünde, dass das Reich in Trümmer fällt‹.«
»Aber du und ich, lieber Vater, wir wissen es besser, nicht wahr?« In Veritas’ Stimme klang eine ungewohnte Bitterkeit wider.
»Veritas …«, begann Listenreich, aber sein Sohn ließ ihn nicht ausreden.
»Mein König«, sagte er förmlich, »Ihr und ich, wir wissen beide, dass wir am Rand des Abgrunds stehen. Und ausgerechnet in dieser kritischen Phase dürfen wir in unserer Wachsamkeit nicht nachlassen. Ich habe keine Zeit, auf Freiersfüßen zu wandeln, und erst recht keine Zeit dafür, mich auf die seltsamen diplomatischen Gepflogenheiten bei der Suche nach einer Braut von königlichem Blut einzulassen. Solange es das Wetter zulässt, werden die Roten Korsaren ihr Unwesen treiben, und wenn es umschlägt und die Stürme sie zwingen, in ihren Heimathäfen Schutz zu suchen, müssen wir die Schonfrist dazu nutzen, unsere Küstenlinien besser zu sichern und Männer zu Seeleuten auszubilden, um eigene Kriegsschiffe auszurüsten. Darüber wollte ich mit Euch sprechen, Vater. Wir müssen uns eine eigene Flotte schaffen, mehr als nur unsere dickbäuchigen Handelsschiffe, die sich den Piraten als fette Beute geradezu anbieten, sondern schnelle Seefalken, wie sie einst unser Stolz waren und wie unsere ältesten Schiffbauer sie heute noch zu konstruieren verstehen. Führen wir Krieg mit den Outislandern, ja, trotz der Winterstürme. Früher brachte unser Volk kühne Seefahrer und Krieger hervor, die ein solches Wagnis jederzeit unternommen hätten. Wenn wir jetzt mit dem Flottenbau anfangen und Matrosen ausbilden, könnten wir im Frühjahr gerüstet sein, dem Feind Paroli zu bieten, und bis zum Winter …«
»Und woher soll das Geld dafür herkommen? Wenn die Angst im Land umgeht, dann fließen die Steuern nur spärlich. Wenn unsere Untertanen ihre Geldsäckel auftun sollen, dann müssen die Kaufleute genug Vertrauen haben, um weiter Handel zu treiben, und die Bauern dürfen keine Angst haben, ihre Herden am
Meer weiden zu lassen. Es läuft alles darauf hinaus, Veritas, dass du dir eine Gemahlin nehmen musst.«
Veritas, der so leidenschaftlich sein Plädoyer für den Bau einer Kriegsflotte gehalten hatte, lehnte sich zurück. Er wirkte enttäuscht und niedergeschlagen auf mich. »Wie Ihr wünscht, mein König«, sagte er dumpf, doch sein resigniertes Kopfschütteln stimmte nicht mit seinen Worten überein.
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