Fitz der Weitseher 01 - Der Weitseher
schlechtes Gewissen, weil er die Ruhepause, die er dringend benötigte, an mich vergeudet hatte.
»Ich weiß. Aber ich habe keine Zeit. Essen bedeutet für sich genommen schon eine Kraftanstrengung. Merkwürdig, das jetzt erst zu erkennen. Und im Moment habe ich dafür keine Kraft übrig.« Seine Augen konzentrierten sich wieder auf den Blick in die Ferne, und sie bemühten sich, den sich langsam lichtenden Regenvorhang zu durchdringen.
»Ich würde Euch meine Kraft geben, Veritas. Wenn ich könnte.« Er sah mich seltsam an. »Bist du sicher? Ganz sicher?«
Ich verstand nicht, weshalb er so eindringlich fragte, aber ich wusste die Antwort. »Natürlich würde ich das.« Und mit einem feierlichen Unterton fügte ich hinzu: »Ich bin ein Vasall des Königs.«
»Und von meinem eigenen Blut.« Der Ausdruck, der nun
über sein Gesicht flog, war schwer zu deuten. Dann schaute er wieder aus dem Fenster. »Und es bleibt uns noch eine gewisse Zeit«, flüsterte er. »Und sie könnte reichen. Verdammt nochmal, Vater! Musst du immer gewinnen? Dann komm schon her, Junge.«
Sein Ton jagte mir Angst ein, aber ich gehorchte und hielt still, als er die Hand ausstreckte und sie mir auf die Schulter legte, als brauchte er Hilfe um aufzustehen.
Doch dann lag ich von einem Moment zum anderen auf dem Boden und sah zu ihm auf. Unter dem Kopf hatte ich ein Kissen, und Veritas’ Decke war über mich gebreitet. Er selbst stand am Fenster. Sein ganzer Körper bebte vor Aufregung, und die Gabe strömte in mächtigen Wellen aus ihm aus, die ich nur schwach spüren konnte. »Auf die Klippen«, sagte er mit tiefer Befriedigung und drehte sich schwungvoll herum. Mit seinem Grinsen war er mit seinem blitzenden und kriegerischen Ausdruck ganz der Alte, doch als sein Blick auf mich fiel, wurde er wieder ernst.
»Wie ein Schaf zur Schlachtbank«, meinte er reumütig. »Ich hätte wissen müssen, dass dir nicht klar ist, wovon du redest.«
»Was ist passiert?«, brachte ich heraus. Meine Zähne klapperten, und mir wurde heiß und kalt. Ich zitterte am ganzen Leib und konnte mich nicht dagegen wehren.
»Du hast mir deine Kraft angeboten. Ich habe sie mir genommen.« Er goss Tee ein und hielt mir den Becher an den Mund. »Es musste schnell gehen. Habe ich vorhin erwähnt, Chivalric wäre ein Grobian gewesen im Gebrauch der Gabe? Was soll ich denn nun von mir selber sagen?«
Er legte wieder seine gewohnte Herzlichkeit und Gutmütigkeit an den Tag, und das war ein Veritas, den man seit Monaten nicht mehr erlebt hatte. Ich nahm mühsam einen Schluck
Tee zu mir und fühlte, wie die Elfenrinde mir im Hals kratzte. Der Schüttelfrost ließ nach. Währenddessen nahm Veritas achtlos einen großen Schluck aus dem Becher.
»In früheren Zeiten«, erzählte er lebhaft, »bezog ein König neue Kraft aus seinem Zirkel. Er hatte ein halbes Dutzend Kundige, die alle im Einklang miteinander standen und fähig waren, Kräfte zu sammeln und zu geben. Darin bestand ihr eigentlicher Zweck. Ihrem König oder ihrem eigenen Lenker Kraft zufließen zu lassen. Ich glaube nicht, dass Galen wirklich eine Ahnung davon hat. Sein Zirkel ist beispielhaft für seine Beschränktheit: Seine Adepten sind wie Pferde, Ochsen und Esel, alle in ein Joch gespannt. Keine wirkliche Einheit. Ihnen fehlt die Harmonie.«
»Ihr habt Euch Kraft von mir genommen?«
»Ja. Glaub mir, Junge, ich hätte es nicht getan, wenn die Gelegenheit nicht so verlockend günstig gewesen wäre und ich nicht geglaubt hätte, du wärst dir über alles bewusst. Du hast dich nach der alten Formel selbst als Vasallen des Königs bezeichnet. Und da wir von einem Blut sind, konnte ich dich erreichen.« Mit einer heftigen Bewegung stellte er den Becher auf das Tablett zurück. Dann verlieh Abscheu seiner Stimme einen kehligen Unterton. »Listenreich. Er zieht die Fäden. Es ist kein Zufall, Junge, dass du es bist, der mir die Mahlzeiten bringt. Er hat dafür gesorgt, dass du für mich jederzeit verfügbar bist.« Veritas ging erregt auf und ab, dann blieb er vor mir stehen. »Es wird nicht wieder vorkommen.«
»So schlimm war es nicht«, sagte ich schwach.
»Nein? Weshalb versuchst du dann nicht aufzustehen? Oder dich wenigstens hinzusetzen? Du bist allein, mein Junge, fernab von jedem Zirkel. Hätte ich nicht deine Unwissenheit erkannt
und mich zurückgezogen, wäre das möglicherweise dein Tod gewesen. Dein Herz hätte einfach aufgehört zu schlagen. Ich werde dir nicht wieder deine Lebenskraft entziehen,
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