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Fitz der Weitseher 01 - Der Weitseher

Titel: Fitz der Weitseher 01 - Der Weitseher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Hobb
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halbwegs genau am Gängelband der Melodie gehalten. An unserem Kamin hatten sich die Halbwüchsigen versammelt, die alt genug waren, stillzusitzen und sich der Kunst des Schreibens zu widmen. Fedwren führte die Aufsicht, wobei seinen blauen Augen nichts entging. »Hier«, sagte er zu mir und deutete mit dem Finger auf die betreffende Stelle. »Du hast die Serifen an den Unterlängen vergessen. Erinnerst du dich, wie ich es dir gezeigt habe? - Justice, mach die Augen auf und schreib weiter! Falls es dir schwerfällt, wachzubleiben, mach ich dir Beine, um uns ein neues Scheit fürs Feuer zu holen. Und Benigna, du darfst ihn sofort begleiten, wenn du nicht aufhörst zu kichern. Davon abgesehen« - übergangslos wandte sich seine ungeteilte Aufmerksamkeit wieder meiner Arbeit zu - »ist deine Strichführung viel besser geworden, nicht nur bei diesen einheimischen Lettern, sondern auch bei den Runen der Outislander. Obwohl man gerade jene auf diesem schlechten Papier
nicht ordentlich ausarbeiten kann. Seine Oberfläche ist zu porös und zu durstig. Für die Zeichnung von Runen bedarf es Bögen aus feiner, geklopfter Rinde«, und er strich mit den Fingern liebevoll über das vor ihm liegende Blatt. »Zeig nur weiter so gute Leistungen, und bevor der Winter zu Ende ist, darfst du mir eine Abschrift von Königin Lebewohls Heilkunde anfertigen. Was hältst du davon?«
    Ich bemühte mich um ein Lächeln und einen Ausdruck von Freude. Schülern vertraute man gewöhnlich keine Kopierarbeiten an, denn gutes Papier war rar und ein misslungener Pinselstrich bedeutete einen verdorbenen Bogen. Ich wusste, die Heilkunde war eine recht einfache Sammlung von Kräuterrezepten und Prophezeiungen, aber jede Art von Abschrift war eine Ehre, die man sich erst verdienen musste. Fedwren reichte mir ein neues Blatt Konzeptpapier. Als ich aufstand, um an meinen Platz zurückzukehren, befahl er mir mit einer Handbewegung zu warten. »Junge?«
    Ich blieb stehen.
    Der alte Mann machte einen unbehaglichen Eindruck. »Ich weiß nicht, an wen ich mich wenden soll, eigentlich wohl an deine Eltern, aber …« Gnädigerweise ließ er den Satz unvollendet. Er kraulte sich mit seinen tintenfleckigen Fingern nachdenklich den Bart. »Der Winter ist bald vorüber, und ich werde mich dann wieder auf den Weg machen. Weißt du, was ich im Sommer tue, Junge? Ich durchwandere alle Sechs Provinzen, sammle Kräuter und Beeren und Wurzeln für meine Tintenzubereitung und treffe Vorkehrungen für die Papiersorten, die ich brauche. Ein gutes Leben - im Sommer das ungebundene Herumschweifen auf den Straßen und im Winter ein warmer Platz hier in der Burg. Schreiber zu sein ist nicht der schlechteste
Lebensunterhalt.« Er betrachtete mich nachdenklich. Ich erwiderte seinen Blick und fragte mich insgeheim, worauf er hinauswollte.
    »Alle paar Jahre nehme ich einen Lehrling an. Einige von ihnen entwickeln sich ganz gut und werden Schreiber auf den kleineren Lehnshöfen. Andere besitzen wiederum nicht die Geduld für das Detail oder das Gedächtnis für die richtigen Tinten. Ich glaube, mit dir ginge es gut. Was würdest du davon halten, ein Schreiber zu werden?«
    Die Frage traf mich vollkommen unerwartet, und ich starrte ihn schweigend an. Es war nicht allein der Gedanke, ein Schreiber zu werden, sondern überhaupt die Vorstellung, Fedwren könnte mich als seinen Lehrling auserkoren, um ihn auf seinen Wanderungen zu begleiten und die Geheimnisse seiner Zunft zu erlernen. Mehrere Jahre waren seit meiner Abmachung mit dem König vergangen. Abgesehen von Chade und meinen Freunden aus der Stadt, Molly und Kerry, kam es mir nie in den Sinn, dass irgendjemand anderes Interesse an meiner Gesellschaft hätte haben können - erst recht nicht an mir als Lehrling. Fedwrens Angebot machte mich also sprachlos. Er musste meine Verwirrung gespürt haben, denn er lächelte sein gütiges, altersloses Lächeln.
    »Nun, denk darüber nach, Junge. Die Schreiberei ist ein gutes Gewerbe, und welche anderen Aussichten hast du sonst? Unter uns gesagt, ich glaube, etwas Urlaub von Bocksburg täte dir gut.«
    »Urlaub von Bocksburg?«, wiederholte ich erstaunt. Es war, als hätte mir jemand einen Vorhang aufgezogen. Der Gedanke war mir nie gekommen. Plötzlich bekamen die Straßen, die von Bocksburg wegführten, in meiner Vorstellung einen verführerischen
Glanz, und die langweiligen Karten, die man mich zu studieren gezwungen hatte, wurden plötzlich zu Orten, die ich besuchen konnte. Ich war

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