Fitz der Weitseher 01 - Der Weitseher
einziges Wort.
Zwei Nächte später, als Chade mich rief, nahmen wir unsere Lektionen wieder auf, als hätte es nie eine Unterbrechung gegeben. Er hielt Vorträge - und ich hörte zu. Wir spielten das Spiel mit den farbigen Steinen - und ich irrte mich kein einziges Mal. Wir machten kleine Späße, und er zeigte mir, wie man Schleicher, das Wiesel, mit einer Wurst als Lockmittel zum Tanzen bringen konnte. Zwischen Chade und mir war alles wieder in Ordnung. Doch bevor ich an diesem Abend sein Zimmer verließ,
trat ich an den Kamin und legte wortlos das silberne Messer mitten auf den Sims. Oder besser gesagt: Ich stieß es aufrecht in den Holzbalken. Dann ging ich, ohne etwas zu sagen oder ihn anzusehen. Tatsächlich sprachen wir niemals wieder darüber.
Ich glaube, das Messer steckt immer noch da.
KAPITEL 6
CHIVALRICS SCHATTEN
E s gibt zwei Erklärungen für den Brauch, königlichen Nachkommen Namen zu geben, die auf Tugenden oder spezielle Fähigkeiten anspielen. Die eine und am weitesten verbreitete Erklärung behauptet, diese Namen seien auf geheimnisvolle Weise bindend, und ein Kind, das eines Tages in der Gabe ausgebildet würde, könne nicht anders, als ein Leben lang getreu seinem Namen zu handeln. Diese erste Erklärung hat die eifrigsten Verfechter unter jenen Leuten, die schon vor dem geringsten Adel katzbuckeln.
Laut einer Überlieferung aus früherer Zeit ist diese Sitte ursprünglich rein zufällig entstanden. Dort heißt es, dass König Nehmer und König Herrscher, jene beiden Outislander, die den Grundstein zum späteren Reich der Sechs Provinzen legten, keineswegs ihre wirklichen Namen trugen. Vielmehr war es so, dass die Namen in ihrer Muttersprache ähnlich klangen wie Begriffe in der Mundart der Herzogtümer, und aus diesem Grund gingen sie statt mit ihrem richtigen Namen mit irrtümlich übertragenen Namensbedeutungen in die Geschichte ein. Nun ist es für das Ansehen des Herrscherhauses ohnehin besser, das einfache Volk in dem Glauben zu lassen, dass ein
Knabe, der auf einen edlen Namen getauft ist, eine ebensolch geartete Persönlichkeit entwickeln wird.
»Junge!«
Ich hob den Kopf. Von dem ungefähr halben Dutzend anderer Jungen, die vor dem Kamin saßen, fühlte sich sonst keiner angesprochen. Die Mädchen zeigten noch weniger Interesse, als ich mich auf einen Platz an dem niedrigen Tisch zubewegte, an dem Meister Fedwren sich niedergekniet hatte. Nun beherrschte Meister Fedwren die Kunst der besonderen Betonung, die jedem verriet, wann Junge einfach nur »Junge« bedeutete und wann damit »der Bastard« gemeint war.
So rückte ich also mit den Knien unter den niedrigen Tisch und ließ mich auf meinen Fersen nieder. Dann präsentierte ich Meister Fedwren meinen Übungsbogen. Während sein Blick über meine sorgfältig eingetragenen Buchstabenkolonnen wanderte, ließ ich meine Gedanken schweifen.
Der Winter hatte uns hier im Großen Saal zusammengebracht. Draußen peitschte vom Meer her ein Sturm gegen die Mauern der Burg, während die mächtigen Brandungswellen mit einer solchen Urgewalt an die Klippen schlugen, dass mitunter der Boden unter unseren Füßen erzitterte. Die tiefhängende Wolkendecke beraubte uns selbst der wenigen Stunden grauen Tageslichts, die die Jahreszeit uns sonst gewährte. Mir kam es vor, als umhüllte uns die Dunkelheit drinnen wie draußen wie ein Nebel. Das Zwielicht legte sich über meine Augen, so dass ich mich schläfrig fühlte, ohne wirklich müde zu sein. Für einen kurzen Moment öffnete ich meine Sinne und spürte die Winterträgheit der Hunde, die in ihren Schlupfwinkeln dösten und im Traum mit den Pfoten zuckten. Nicht einmal
dort fand ich Gedanken oder Bilder, die mein Interesse geweckt hätten.
In allen drei großen Kaminen brannte Feuer, und jeder war von einer anderen Gruppe umringt. An einem Kamin waren die Pfeilmacher emsig bei der Arbeit, nur für den Fall, dass es am nächsten Morgen so weit aufklarte, um einen Jagdausflug zu unternehmen. Ich hätte gerne bei ihnen gesessen, denn man hörte Sherf mit seiner melodischen Stimme eine Geschichte erzählen, die in Abständen vom Gelächter ihrer Zuhörer unterbrochen wurde. Am hinteren Kamin erhoben sich helle Kinderstimmen singend zu einem fröhlichen Refrain. Ich erkannte das Schäferlied, es war ein Abzählreim. Ein paar wachsame Mütter wippten mit dem Fuß im Takt, während sie sich über ihre Klöppelarbeit beugten, und selbst Jerdons welke alte Hände wurden von den jungen Sängern
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