Fitz der Weitseher 01 - Der Weitseher
wie gebannt.
»Ja«, sagte Fedwren leise. »Geh weg von Bocksburg. Je älter du wirst, desto kürzer wird Chivalrics Schatten. Er wird dich nicht immer schützen. Besser, du stehst bald auf eigenen Füßen, führst dein eigenes Leben und deinen eigenen Broterwerb, bevor du irgendwann einmal nicht mehr damit rechnen kannst, unter seinem Schutz zu stehen. Aber du brauchst mir nicht gleich zu antworten. Denk darüber nach. Wenn du willst, sprich vielleicht auch mit Burrich.«
Und er gab mir mein Blatt Papier und schickte mich auf meinen Platz zurück. Ich dachte über seine Worte nach, aber es war schließlich nicht Burrich, an den ich mich wandte. In der Stunde zwischen Nacht und Morgen kauerten Chade und ich Kopf an Kopf auf dem Fußboden. Ich sammelte die roten Scherben eines zerbrochenen Kruges ein, den Schleicher umgeworfen hatte, während Chade gleichzeitig die überall verstreuten staubfeinen schwarzen Samenkörner zusammenklaubte. Schleicher klammerte sich an den oberen Rand eines zerschlissenen Wandteppichs und zirpte entschuldigend, aber ich spürte sein diebisches Vergnügen.
»Die Samen kommen den ganzen weiten Weg von Kalibar, du kleiner, pelziger Taugenichts!«, schimpfte Chade.
»Kalibar«, sagte ich und zitierte aus dem Lehrbuch: »Eine Tagesreise hinter unserer Grenze mit Sandsedge.«
»Stimmt genau, mein Junge«, brummte Chade anerkennend.
»Bist du je dort gewesen?«
»Ich? Oh nein. Von dorther stammt der Samen, aber ich habe ihn mir aus Feuergrat bringen lassen. Dort gibt es einen großen
Markt, auf dem Kaufleute aus allen Sechs Provinzen ihre Waren feilbieten.«
»Oh, Feuergrat. Aber da bist du doch gewesen?«
Chade überlegte. »Ein- oder zweimal, als junger Mann. Am besten erinnere ich mich noch an den Lärm und die Hitze dort. Landeinwärts ist es meist so - zu trocken, zu heiß. Ich war froh, wieder nach Bocksburg zurückzukehren.«
»Bist du je an einem Ort gewesen, wo es dir besser gefallen hat als hier in Bocksburg?«
Chade streckte sich langsam, während er noch einen kleinen Haufen schwarzer Samenkörner in der hohlen Hand hielt. »Warum fragst du nicht einfach, was du fragen willst, statt darum herumzuschleichen wie die Katze um den heißen Brei?«
Also berichtete ich ihm von Fedwrens Angebot und auch von meiner plötzlichen Erkenntnis, dass Landkarten mehr waren als Striche und Farben. Sie symbolisierten Orte und Möglichkeiten, und ich konnte von hier weggehen und jemand anders sein, ein Schreiber oder …
»Nein«, unterbrach mich Chade sanft, aber bestimmt. »Wohin du auch gehst, du bleibst überall Chivalrics Bastard. Fedwren ist klarsichtiger, als ich ihm zugetraut hätte, trotzdem durchschaut er die Zusammenhänge nicht. Nicht völlig. Er sieht, dass du hier stets ein Bastard und Außenseiter bleiben wirst. Was er nicht begreift, ist, dass du an König Listenreichs Hof und unter seiner Beobachtung keine Gefahr für ihn darstellst. Anderswo und fremden Einflüssen ausgesetzt würdest du allerdings zu einer Bedrohung für den König und zu einer noch größeren für seinen Erben. Du würdest niemals ein freies Wanderleben als fahrender Schreiber führen können, vielmehr würde man dich eines Tages mit durchgeschnittener Kehle in
einem Wirtshausbett finden - oder am Straßenrand mit einem Pfeil im Herzen.«
Mich überlief ein Frösteln. »Aber warum?«, fragte ich kläglich.
Chade seufzte. Er ließ die Samen in eine kleine Schüssel rieseln und rieb dann vorsichtig die Hände gegeneinander, um die noch festhaftenden Körnchen abzustreifen. »Weil du ein königlicher Bastard bist und ein Gefangener deiner Herkunft. Vorläufig, wie schon gesagt, stellst du für Listenreich keine Bedrohung dar. Doch er blickt weiter in die Zukunft. Wie du es auch tun solltest. Dies sind unruhige Zeiten. Die Raubzüge der Outislander werden immer dreister. Die Küstenbewohner fangen an zu murren und sagen, wir brauchen mehr Patrouillenboote, manche fordern sogar Kriegsschiffe, um Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Aber die Provinzen im Inneren des Landes weigern sich, eine solche Flotte zu finanzieren, erst recht keine Schlachtschiffe, mit denen wir uns womöglich in einen ausgewachsenen Seekrieg hineinmanövrieren. Zudem werden die Bergvölker immer zurückhaltender, was die Benutzung ihrer Pässe angeht. Die Wegezölle steigen von Monat zu Monat, was zur wachsenden Unzufriedenheit der Kaufleute führt. In Sandsedge und den noch südlicheren Gegenden herrscht Dürre, und die Zeiten sind
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