Fitz der Weitseher 01 - Der Weitseher
nach Ingot und stellen fest, dass für uns gar nichts mehr zu tun ist. Und außerdem wüsste ich doch ganz gerne, welche Nachricht er durch die Gabe an Veritas übermittelt hat. Es heißt, in jenen alten Tagen, als noch mehr Menschen an der Gabe geschult wurden, konnte ein Mann spüren und sagen, woran sein Befehlshaber dachte, wenn er nur eine Weile still war und lauschte. Aber das ist vielleicht nur ein Märchen. Heute ist die Gabe kein Allgemeingut mehr. Ich glaube, es war König Wohlgesinnt, der darüber verfügte: Beschränkt die Gabe auf eine Elite, macht sie zu einem geheimnisumwitterten,
seltenen Werkzeug, umso wertvoller wird sie. Das hielt man seinerzeit für der Weisheit letzten Schluss. Ich habe die Logik nie ganz begriffen. Wenn man das Gleiche nun für gute Bogenschützen oder Seefahrer forderte? Andererseits nehme ich an, dass die Aura des Geheimnisvollen durchaus dazu geeignet ist, einem Offizier in den Augen seiner Soldaten größere Autorität zu verleihen … oder es ist für einen Mann wie Listenreich schlicht ein Genuss, seine Untertanen darüber im Unklaren zu lassen, ob er tatsächlich fähig ist, auch über eine große Entfernung ihre Gedanken zu lesen. Ja, das wäre, so wie ich ihn kenne, ganz nach seinem Geschmack.«
Zuerst dachte ich, Chade wäre in großer Sorge oder sehr zornig. Ein solcher Wortschwall war gänzlich ungewohnt bei ihm. Doch als sein Pferd vor einem Eichhörnchen scheute, das über den Weg huschte, wäre er um ein Haar gestürzt. Ich beugte mich zur Seite und bekam seine Zügel zu fassen. »Fühlst du dich nicht wohl? Was ist los?«
Er schüttelte schwerfällig den Kopf. »Nichts. Sobald wir auf dem Boot sind, geht es mir wieder gut. Es ist jetzt nicht mehr weit.« Seine blasse Haut hatte einen grauen Schimmer angenommen, und bei jedem Schritt des Pferdes schwankte er im Sattel.
»Legen wir eine kurze Rast ein«, schlug ich vor.
»Ebbe und Flut warten nicht. Und eine Rast würde mir nicht helfen, im Gegenteil, ich müsste ständig daran denken, wie unser Schiff an den Klippen zerschellt. Nein. Wir müssen weiter.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Vertrau mir, Junge. Ich kenne meine Grenzen, und ich bin nicht so töricht, sie zu überschreiten.«
Also ritten wir weiter. Was hätten wir auch sonst tun sollen?
Doch ich hielt mich beim Reiten neben dem Kopf seines Braunen, wo ich nach den Zügeln greifen konnte, sollte es nötig sein. Das Rauschen der Brandung wurde lauter, der Pfad aber gleichzeitig erheblich steiler. Ohne es zu wollen übernahm ich die Führung.
Wir ließen den Wald endgültig hinter uns, als wir zu einem Felsvorsprung kamen, unter dem sich ein flacher Sandstrand erstreckte. »Eda sei Dank, sie haben die Verabredung eingehalten«, hörte ich Chade hinter mir murmeln, und mit einem Blick nach unten entdeckte ich den flachen Kahn, der dicht am Ufer vor Anker lag. Ein Mann auf Wache rief Hallo und schwenkte die Mütze. Ich hob grüßend den Arm.
Der Abstieg erwies sich als nicht ungefährliche Rutschpartie, die wir aber heil bewältigten. Unten angelangt, ging Chade sofort an Bord, und mir blieb es überlassen, die Pferde zu verladen. Beide zeigten keinerlei Neigung, sich in die Wellen hinauszuwagen, ganz zu schweigen davon, freiwillig über die niedrige Reling an Bord zu klettern. Ich versuchte, mit ihnen gedanklich in Verbindung zu treten, ich wollte sie wissen lassen, was von ihnen erwartet wurde, aber zum ersten Mal in meinem Leben war ich dazu einfach zu erschöpft. Es gelang mir nicht, die erforderliche Konzentration aufzubringen. Folglich waren unter zahlreichen Flüchen drei Matrosen und zwei Vollbäder meinerseits nötig, um die beiden Pferde endlich an Bord zu manövrieren. Jedes Stückchen Leder und jede Schnalle ihres Zaum- und Sattelzeugs war mit Salzwasser getränkt. Wie sollte ich Burrich das erklären? Dieser Gedanke beschäftigte mich am meisten, während ich am Bug saß und zuschaute, wie die Matrosen im Beiboot sich in die Riemen legten, um uns in tieferes Wasser zu rudern.
KAPITEL 10
ERKENNTNISSE
D ie Zeit und die Gezeiten warten auf niemanden - ein Sprichwort von allgemeiner Gültigkeit. Bei Seeleuten und Fischern bedeutet es schlicht, dass das Ein- und Auslaufen vom Rhythmus von Ebbe und Flut diktiert wird und sich nicht nach dem Belieben der Menschen richtet. Doch manchmal liege ich hier, nachdem der Tee den größten Schmerz gelindert hat, und denke darüber nach. Die Gezeiten richten sich nicht nach dem Menschen, dieser
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